Premiere in Hamburg Bittere Farce: Thalheimers „Der zerbrochne Krug“
Hamburg (dpa) - Aggressivität ist die Tonart dieses Abends. Gegenseitige Verachtung und Hass, geistige Unfreiheit und dreiste Selbstbezogenheit drücken sich bereits in den Körpern fast aller Beteiligter an dem Prozess aus.
Und ihre Münder keifen und schreien ohne Unterlass - bei sich überschlagenden Stimmen - Phrasen voller Schuldzuweisung, Gier und Rechtfertigung. Eingepfercht sind Klägerin, Zeugen und Gerichtsbarkeit in eine Art Riesensetzkasten. In dem kann sich die einfache Landbevölkerung unten nur gebeugt bewegen, während bei den erhöht agierenden Repräsentanten des Systems viel Luft nach oben bleibt.
Es ist eine düstere Gegenwartsgesellschaft, die der Starregisseur Michael Thalheimer mit Heinrich von Kleists Klassiker „Der zerbrochne Krug“ aus dem Jahr 1808 auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg bannt. Bei der Premiere am Samstagabend zeigt sich das Publikum beeindruckt von der Deutung der beliebten Komödie als bitterer, nur gelegentlich witziger Farce und applaudiert begeistert. Dabei bringt hier - in Abweichung von der meist gezeigten Stückfassung - am Ende kein Gerichtsrat Walter als höchster Vertreter staatlicher Ordnung Licht in die Finsternis.
Vielmehr ist dieser Jurist Teil der Gemeinheiten bei der Verhandlung um ein in der Nacht zerstörtes Keramikgefäß und die damit mögliche verlorene Unschuld der jungen Eve (Josefine Israel). Dann nämlich vergeht sich der Mann, dessen latente Dauerwut seinen zu engen Bürgeranzug fast platzen lässt (Markus John), selbst an Evchen. Lüstern küsst er sie auf den Mund und greift ihr an die Brust. Während ihr Bräutigam Ruprecht (Paul Behren) vom schamlos korrupten Richter, der die Tat in Wahrheit selbst begangen hat, in den Eisenring verdonnert wird.
Die dichte und konsequente, allerdings auch überdeutliche und eher eindimensionale Version Thalheimers im markanten Bühnenbild Olaf Altmanns prägen großartige schauspielerische Leistungen. Während im Hintergrund pausenlos monotone Musik abspult (Komposition: Bert Wrede), sind furiose Auftritte zu erleben: vor allem bei Anja Lais, voller Brass als Evchens empörte Mutter Frau Marthe Rull, bei Israel als ihrer anrührend seelische Not leidenden Tochter und bei Behren als deren eifernder, sich vor seinem tumb brutalen Vater fürchtenden Bräutigam. Der muss sich zuallerletzt von seiner ursprünglichen Verlobten anhören: „Ich will nichts von dir wissen.“ Das bringt die ganze innere Beziehungslosigkeit dieser angeblich menschlichen Gemeinschaft noch einmal auf den Punkt.
Den spektakulärsten Anteil am Geschehen hat jedoch Carlo Ljubek in der Parade-Charakterrolle als alter, längst aus dem Unschuldsparadies vertriebener Dorfrichter Adam: Splitternackt bis auf schwarze Socken schleicht er gleich zu Anfang in Richtung seines kühl-modernen Gerichtsstuhls. Voller Blut und Wunden ist sein Körper, lädiert beim perfide arrangierten Besuch bei Eve. Schlangengleich windet sich der entblößte Verhandlungsführer sodann bei Ljubek - in seiner Ausstrahlung an Goethes bösen Geist Mephistopheles oder auch Shakespeares triebgesteuertes „Sturm“-Wesen Caliban gemahnend. Wie ein Dämon springt Adam einmal sogar dem Schreiber Licht (Christoph Luser) an den Hals. Wohlwissend, dass dieser selbst egoistische Pläne verfolgt.
Die Aufführung ist die erste Arbeit Thalheimers am Deutschen Schauspielhaus. Dennoch ist sie für den preisgekrönten 51-Jährigen fast ein Heimspiel. Zu Beginn des Jahrtausends, während der Intendanz Ulrich Khuons, dem er nach Berlin ans Deutsche Theater folgte, gehörte er zu den erfolgreichsten Regisseuren am Thalia Theater der Hansestadt. Mit Beginn der Spielzeit 2017/18 wird Thalheimer als Hausregisseur am Berliner Ensemble arbeiten und dort auch der Theaterleitung angehören.