Die Wirklichkeit spiegelt das Bühnengeschehen
Schauspieler verletzt sich in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ und spielt weiter.
Düsseldorf. Zu berichten ist von einem tapferen Schauspieler: Thiemo Schwarz spielte die Rolle von James Tyrone Jr. mit großem körperlichen Einsatz, stürzte dann aber so unglücklich, dass er sich die Schulter auskugelte. Erst mit der Zeit merkte das Publikum, dass etwas nicht stimmte. Intendantin Amélie Niermeyer musste die Vorstellung unterbrechen, Thiemo Schwarz wurde verarztet und spielte weiter - mit Stützverband.
Beinahe unheimlich wirkte der Vorfall, weil in diesem Moment die Wirklichkeit das Bühnengeschehen spiegelte: Auch im Stück von Eugene O’Neill verbergen vier Menschen ihre Schmerzen. Der amerikanische Autor hat in "Eines langen Tages Reise in die Nacht" seine Familiengeschichte verarbeitet: Vater und Bruder alkoholkrank, die Mutter morphiumsüchtig. Sich selbst porträtierte er in der Rolle des Edmund, der als Matrose zur See fuhr, nun aber krank in die Familienhölle zurückgekehrt ist. Die Diagnose, die keiner aussprechen will, lautet: Schwindsucht.
Suchtkranke verbergen ihre Sucht ebenso wie das Leid, das sie dazu gebracht hat. Wenn aber Mary Tyrone ihre Dosis Morphium injiziert hat, dann sprudelt es nur so heraus: Wie unglücklich sie war in der Ehe mit dem stets beschwipsten Schauspieler, ohne wirkliches Zuhause immer unterwegs in zweitklassigen Hotels.
Ein Kind hat sie verloren, ihre Hände, mit denen sie früher so schön Klavier spielte, sind von Arthritis gezeichnet. Die herausragende Susanne Tremper betrachtet ihre Hände, als könnte sie nicht glauben, wie das Leben sie gezeichnet hat. Beeindruckend zeigt sie, wie die Fassade der glücklichen Familienmutter bröckelt, bis sie mit gespenstisch-schwebender Leichtigkeit ganz in ihre eigene Welt abtaucht.
Die Fassaden fallen auch im Bühnenbild von Anna Börnsen. Zunächst sieht das Publikum nur eine Wand und hört, wie dahinter fröhliches Geplauder in eine gereizte Stimmung übergeht. Dann kippt die Wand um und öffnet den Blick auf ein hyperrealistisches Wohnzimmer: schäbige Möbel, schreiende Tapeten. Bald sind alle Wände gefallen, die Familie sitzt in den Trümmern, in denen das irische Dienstmädchen (Lisa Arnold) mit Neugier und wachsendem Entsetzen die Vorgänge beobachtet.
Die junge Regisseurin Julia Hölscher inszenierte erstaunlich bieder die Psychokrämpfe und -kämpfe dieser Familie. Michael Abendroth zeigt Vater Tyrone als still leidenden Säufer, es fehlt ihm aber die Dimension des eitlen Selbstdarstellers. Thiemo Schwarz legt seinen Erstgeborenen als verzweifelten Rebellen an, während Daniel Nerlich den sensiblen Edmund zwar glaubhaft verkörpert, aber dessen innere Kämpfe nicht wirklich zum Ausdruck bringt. Vielleicht, weil die Regie die "Nacht" etwas zu wörtlich genommen hat: der vierte Akt spielt beinahe im Dunkeln. Das steht zwar im Stück, aber der Aufführung tut es nicht gut. Mehr Licht bitte!
2 Std. ohne Pause, Auff.: 25., 26. September, 2., 6., 16., 22., 30. Oktober, Karten: Tel. 0211/369911.