Jelineks „Wut“ in München uraufgeführt

München (dpa) - Zur Beginn der Aufführung ertönt die zitternde, tränenerstickte Stimme eines Mannes, der von Unvorstellbarem berichtet.

Jelineks „Wut“ in München uraufgeführt
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Es ist die Stimme von Jesse Hughes, Frontmann der Band Eagles of Death Metal, die auf der Bühne stand, als islamistische Terroristen im November 2015 in dem Pariser Musikclub Bataclan ein Blutbad anrichteten und 89 Menschen ermordeten.

Jelineks „Wut“ in München uraufgeführt
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Hughes, der mit seiner Band zu so etwas wie dem Symbol einer freien, feierfreudigen und von Gewalt bedrohten Gesellschaft wurde, sagt in diesem Interview, er sehe den Grund für das Massaker nicht in den Waffen der Attentäter, sondern darin, dass das Publikum unbewaffnet und darum wehrlos war - und fordert Waffen für alle.

Jelineks „Wut“ in München uraufgeführt
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Hass erzeugt Hass, Gewalt Gegengewalt. Das neue Stücke von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelineks handelt von islamistischem Terror, von rechtem Mob, von „Wut“. So heißt ihr Werk, das am Samstagabend Uraufführung an den Münchner Kammerspielen feiert. „Alle gegen alle“ lautet ein Schlüsselsatz.

„Es ist der Versuch, das zu verstehen, was da gerade passiert“, erläutert Regisseur Nicolas Stemann im Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Ich habe noch nie ein Stück inszeniert, das so unmittelbar und aktuell war und geradezu täglich von den Ereignissen überholt und neu aufgeladen wird, die man in den Nachrichten hört.“

Jelinek hat das Stück nach dem Anschlag islamistischer Terroristen auf die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris geschrieben - Stemann hat es nun nach den erneuten Anschlägen in Paris und Brüssel inszeniert. „Als ich das Stück geschrieben habe, habe ich mir nicht vorstellen können, dass es zu einem solchen Massenmord wie im Bataclan und an anderen Pariser Orten kommen könnte“, sagt Jelinek in einem im Programmheft der Kammerspiele zur Aufführung veröffentlichten Interview.

Nach knapp vier Stunden gibt es am Premierenabend begeisterten Applaus des Publikums - auch wenn nicht alle Zuschauer es bis zum Schluss aushalten und Auflockerungs-Momente wie eine Jam-Session mit Regisseur Stemann zum Thema „Kinder, Küche, Kalaschnikow“ oder die Einladung, auf die Bühne zu kommen, dazu nutzen, das Theater zu verlassen.

Was Stemann ansonsten auf die Bühne bringt, schwankt zwischen düsteren Zukunftsvisionen, Klamauk und sehr schwarzem Humor. Im Stück geht es nicht nur um die Wut der Terroristen, um Bekenner-Videos und Teenage-Mädchen, die in den Dschihad ziehen und in Mini-Röcken „Allahu akbar“ kreischen, sondern auch um den Wutbürger, die AfD, Pegida und ihren Hass auf die „Lügenpresse“ sowie Shitstorms im Internet, die sehr plastisch mit fliegenden braunen Haufen dargestellt werden. Auch der Fall Jan Böhmermann schafft es in diversen Anspielungen immer wieder auf die Bühne. Die sieben Schauspieler schlüpfen in immer andere Rollen.

Die Mohammed-Karikaturen, die es gewesen sein sollen, mit denen die „Charlie Hebdo“-Redaktion den Hass der Terroristen auf sich zog, umschifft Stemann - auch, weil er nicht unnötig Öl ins Feuer gießen wollte, wie der Regisseur vor der Premiere sagte. „Ich versuche, nicht rumzuzündeln, weil ich auch nicht weiß, was das bringen sollte.“ Er lässt Jesus (herausragend: Julia Riedler) auftreten, Zeus, Buddha, Ganesha, den Nikolaus - und das Spaghetti-Monster. Nur „Mo“ fehlt. Die Begründung: „Er ist aus politischen Gründen verhindert.“

Um ihn zu grüßen machen die restlichen Galionsfiguren der diversen Religionen ein Selfie. Selfie-Stick ist dabei Jesu Kreuz. Die Art, heute zu kommunizieren, das allgegenwärtige Smartphone, spielt für Jelinek eine große Rolle.

Ihr Stück malt insgesamt düstere Zukunftsvisionen, zeigt Gewalt, eine blutverschmierte Friedestaube - und die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass sie davon ausgeht, dass Anschläge wie auf „Charlie Hebdo“ auch im jahrzehntelang sicher geglaubten Europa dazugehören. „Ihr werdet uns nicht zum letzten Mal gesehen haben“, sagt in ihrem Stück ein Islamist (Franz Rogowski).

Die Inszenierung bleibt bei der verheerenden Gewaltspirale aber nicht bei den Terroristen stehen, sondern spielt den Ball zurück. So wird das Massaker der Pariser Polizei an algerischen Demonstranten im Jahr 1961 thematisiert, das die französische Regierung erst Jahrzehnte später, im Jahr 2012, offiziell einräumte. Inwiefern das Massaker die algerisch-stämmigen Männer, die „Charlie Hebdo“ angriffen, betroffen habe, „wissen wir nicht“.