Jung, jüdisch und Berliner

Hauptstadt: Die jüdische Party- und Kulturszene wird von einer neuen Generation geprägt.

Berlin. Berlin ist "meschugge", ein bisschen verrückt also. Das sagt der DJ Aviv Netter. Mädchen tanzen zu seiner Musik unter Fähnchen mit Davidstern und siebenarmigem Leuchter durch die Nacht. Auf ihren T-Shirts steht "Ich bin koscher - küss mich", mancher Junge trägt Kippa zur Baggy-Hose. "Wir sind fröhlich, laut und zufrieden mit dem, was wir haben", sagt Netter. Berlins jüdische Party- und Kulturszene boomt, denn eine neue Generation Juden in Deutschland gibt ihr ein attraktives Gesicht.

Sie sind 20 bis 30 Jahre alt. Sie haben nicht wie ihre Großeltern den Holocaust erlebt, sie mussten auch nicht wie ihre Eltern mit den Folgen der Vertreibung kämpfen. "Meine Generation ist daher bereit, langsam loszulassen", sagt der 20-jährige Simon Horvath. Mit dem anstehenden Generationswechsel im Zentralrat der Juden müsse sich auch der Umgang mit der jüdischen Vergangenheit in Deutschland ändern.

"Es gibt kein Land auf der Welt, in dem ein Jude besser leben kann als in Deutschland", sagt er. Hier werde seine Kultur gefördert, seine Organisationen bekämen Rückendeckung. Offen wolle er daher zum Judentum stehen - keine Selbstverständlichkeit für Deutsche mit jüdischen Wurzeln, sagt Horvath. Er war elf Jahr alt, als er selbst erfuhr, dass er jüdisch ist. Seine Mutter hatte es ihm verschwiegen. "Ich dachte mir nur, warum soll ich das weiterhin verschweigen?", erzählt er. Horvath gründete eine Klezmer-Gruppe und ist aktives Mitglied im Kulturverein "Jung und Jüdisch Deutschland".

Aviv Russ, die Stimme der jüdischen Radiosendung "KOL Berlin" im Offenen Kanal Alex, ist ein Fürsprecher seiner Generation. In seiner Talkshow wirbt er für ein neues, ein selbstbewusstes Judentum. "Was meine Generation von unseren Großeltern und Eltern unterscheidet? Wir benutzen den Holocaust nicht als Ausrede", sagt Russ. "Es stört mich, dass es hier immer heißt, wir haben Anrechte auf etwas, weil wir überlebt haben."

Der 32-Jährige lebt seit fünf Jahren in Berlin, geboren wurde er in Israel. "Etwas bringt uns zurück nach Deutschland", sagt er. "Etwas liegt hier in der Luft." Berlin habe sich zum Schauplatz des deutschen Judentums entwickelt, denn die Stadt locke mit Liberalismus, Offenheit und Vergangenheit. "Es ist der Reiz der Gegensätze, der mich hergebracht hat." Wo viele Religionen für die Generation der 20- bis 30-Jährigen an Anziehungskraft verloren hätten, scheine das Judentum in Deutschland Anhänger zu gewinnen, sagt die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg. Es gebe viele Seiten des jüdischen Lebens. Das Judentum sei einerseits ein Gottglaube, andererseits eine reine Lebensphilosophie, die mit einer Kirche nichts zu tun haben müsse. In Berlin seien nur einige Hundert streng religiös.

Die große Mehrheit der jungen Leute versteht sich als Juden, lebt das aber vor allem als weltliches Gefühl. In Berlin tanzt die Generation Jetzt auf den von Netter organisierten "Meschugge"-Partys oder jubelt der jüdischen Band "Jewdyssee" zu. Und das mit Segen der Synagoge: "Das Judentum hält viel von Festen und Feiern", sagt Rabbinerin Ederberg.