Kultregisseur Castorf inszeniert „Judith“
Berlin (dpa) - Der Kopf, blutverschmiert und abgetrennt. Holofernes hält das menschliche Haupt in seiner Hand und tritt es kräftig, bis Fleischfetzen über den Theaterboden spritzen. Intendant Frank Castorf spart an der Berliner Volksbühne mal wieder nicht mit Grausamkeiten.
Der 64-Jährige knöpfte sich am Mittwochabend die Bibelgeschichte von Judith und Holofernes vor - oder das, was er daraus machen wollte.
Das Publikum erwarten viereinhalb Stunden Wahnsinn. „Viereinhalb Stunden? Mitten in der Woche?“, fragt eine Besucherin schon vor Beginn der Vorstellung. Castorf kann nicht kurz. „Wissen Sie, ich glaube an Überforderung“, sagte er im Herbst in einem Interview der „Stuttgarter Nachrichten“. Und Überforderung bringt Castorf, der nur noch bis 2017 an der Volksbühne bleibt, dann auch auf die Bühne.
Castorf zeigt Sequenzen aus Pornofilmen, tauscht Zuschauer- und Bühnenraum, lässt Szenen mit wackeligen Handkameras filmen, baut ein echtes Kamel ein und entspinnt Wahnsinnsdialoge. Man kann manche Texte eigentlich kaum verstehen. Man soll es wahrscheinlich auch nicht. Stattdessen fängt der eigene Kopf an zu arbeiten.
„Wo ist der rote Faden?“, fragen die Schauspieler am Anfang. „Ich hab ihn! Ich hab ihn gefunden.“ Also, der rote Faden: Die Tragödie „Judith“ von Friedrich Hebbel (1813-1863) basiert auf einer Erzählung des Alten Testaments. Judith verführt Holofernes und schlägt ihm anschließend den Kopf ab, um ihr Volk zu retten. Eine Szene, die schon Maler wie Cranach, Botticelli und Rubens abbildeten.
Die Österreicherin Birgit Minichmayr („Alle anderen“) spielt eine lustgetriebene, überhebliche, kaputte Judith, die mit rauer Stimme lallt und labert. Ihr Gegenpart ist der frühere „Tatort“-Kommissar Martin Wuttke, der als Holofernes einen Nasenring und einen halbrasierten Schädel trägt. An der Seite der beiden glänzt am Premierenabend Jungstar Jasna Fritzi Bauer als Magd Mirza.
Die Inszenierung streift viele Themen. Die Rede ist von Syrien, von Tempeln, von Massenmedien. Der abgeschlagene Kopf und die wackelig gedrehten Videos lassen einen an die Gräueltaten der IS-Islamisten denken. „Auch heute gibt es Kämpfer, die, möglicherweise aus ähnlichen Gründen wie Judith, die Ungläubigen, das heißt den Westen, f***** wollen“, hieß es in der Vorankündigung der Volksbühne.
Diese Kämpfer seien fasziniert von den Errungenschaften des Westens, sie machten sich etwa die Medientechnologie zu eigen. Die Premiere fällt in eine Zeit, in der man nahezu täglich von Terror liest. Kurz zuvor hatte etwa der IS bestätigt, dass der berüchtigte Terrorist „Dschihadi John“ von einer Drohne getötet wurde. Er soll regelmäßig an Enthauptungen beteiligt gewesen sein.
All das schwelt im Hintergrund, wenn man die Inszenierung sieht, und doch bekommt man auf der Bühne nur Andeutungen. „Ich habe Hass“, sagt ein Schauspieler einmal in dem irrsinnigen Textschwall. Das Problem sei, dass es bei diesem Satz kein Objekt mehr gebe. Der Hass, so scheint es, richtet sich gegen alles, jeden und nichts.
In diesem Satz liegt Wahrheit. Und man kann ihn als Kritik verstehen. Man muss es aber nicht. Vordergründig bemüht sich die Inszenierung eher um Geschlechterkampf, Leidenschaft und Sex. Das ist eigentlich schade. Judith wird als leidende Liebende gezeigt, die Holofernes schließlich töten will, um nicht abhängig von ihm zu werden. Zum Lied „The Power of Love“ scheint es dem Mann an den Kragen zu gehen.
Insgesamt sind die viereinhalb Stunden extrem kurzweilig und gerade gegen Ende ungemein unterhaltsam. Das Urteil des Publikums liegt irgendwo zwischen Stirnrunzeln (ein Kommentar in der Pause: „Ich habe nichts verstanden“), amüsiertem Lachen und Jubelpfiffen. Überwiegend gibt es aus den Zuschauerreihen am Ende ordentlichen Applaus für Castorf und das Ensemble, allen voran für Minichmayr und Wuttke.