Nachruf: Große Trauer um Pina Bausch
Die Wuppertaler Choreografin und Tänzerin starb am Dienstag (30.6.) überraschend im Alter von 68 Jahren an Krebs.
Wuppertal. Pina Bausch ist tot. Die Nachricht verbreitete sich am Dienstag (30.6.) in Form einer nüchternen Pressemitteilung, und doch erschüttert sie Menschen in der ganzen Welt.
Die Wuppertaler Tänzerin und Choreografin starb am Dienstagmorgen plötzlich und unerwartet, fünf Tage nach einer Krebsdiagnose, im Alter von 68 Jahren. Im Juni noch feierte ihre nun wohl letzte Choreografie Uraufführung im Wuppertaler Opernhaus, ein kraftvoll-berührendes Werk, das noch einmal ihre ganze poetische Fantasie demonstrierte.
Nicht nur Wuppertal, dem sie seit 1973 trotz vieler Angebote die Treue hielt, ist geschockt vom Tod Pina Bauschs. Ihr humanistisches Welttheater ist nationales Aushängeschild, Markenartikel und Exportschlager. Sie hat dem deutschen Tanztheater eine ungeahnte Popularität und Anerkennung verschafft - von Amerika bis China und Japan.
Die Nachricht vom Tod seiner Chefin ereilte das Ensemble am Dienstag beim Gastspiel in Wroclaw in Polen. Pina Bausch allerdings starb in einem Wuppertaler Krankenhaus.
Pina Bausch hat die Ästhetik und Rezeption des Tanzes revolutioniert, kurz: Theatergeschichte geschrieben. Eine Klassikerin zu Lebzeiten, findet sie sich bereits im Werk der Epigonen in aller Welt wieder.
Ihre ersten Studien menschlichen Verhaltens machte Phillipine Bausch in der Wirtsstube ihrer Eltern in Solingen. Dort hockte sie, die sich in kindlicher Sprachvereinfachung selbst zu "Pina" machte, unter den Tischen.
Sie versteckte sich dort, um dem elterlichen Zu-Bett-Ruf zu entrinnen, und beobachtete die Welt von unten. Manchmal, wenn die Schwebebahn sie durch die Nachbarstadt Wuppertal, trug betrachtete sie sie von oben. Schon mit dem Kinderballett stand das Mädchen auf der Bühne - als Liftboy, Zeitungsjunge oder Mohr im Harem.
Mit 15 Jahren begann Pina Bausch ihr Tanzstudium an der Folkwangschule in Essen bei Kurt Jooss. Eine Vaterfigur, über die sie später sagte: "Was mich mit ihm verbindet, sind menschliche Dinge, seine Humanität."
Diese Humanität ist es auch, die ihre Kunst groß gemacht hat. Pina Bausch hat sie in einer bewegten Botschaft ästhetisiert, die alle Welt hören will. Mit einem DAAD-Stipendium kam die Ballerina nach New York, besuchte die Juillard School, lernte bei José Limòn und feierte als Solistin Erfolge an der Met.
Die 32-Jährige kehrte nach Deutschland zurück, um im soeben gegründeten Folkwang-Ballett unter Jooss zu tanzen. Erste experimentelle Choreografien ließen vor allem den Intendanten der Wuppertaler Bühnen aufhorchen. Arno Wüstenhöfer näherte sich dem außergewöhnlichen Talent mit Auftragsarbeiten. Spätestens das wunderbare "Tannhäuser-Bacchanal" (1972) war über alle Zweifel erhaben.
Wüstenhöfer holte Pina Bausch als Ballettchefin an die Wuppertaler Bühnen. Aus der klassischen Compagnie wurde das Wuppertaler Tanztheater. Ein mutiger Schritt - für beide Seiten. Denn die Lust der 68er am Experiment, die dem Tanztheater Einlass in die Stadttheater ermöglicht hatte, war dem Publikum vergangen.
Es träumte wieder von "Schwanensee" und quittierte die tanztheatralen Alpträume der Neuen mit Spott und Spucke. Pina Bauschs Atem reichte aus, um die eigenen Ängste zu überwinden und sich als einzige deutsche Tanztheater-Exponentin an die internationale Spitze zu arbeiten.
Auf kleinere Formate wie "Yvonne" oder "Fritz" folgten Abendfüller nach literarischen und musikalischen Vorlagen, etwa "Iphigenie", "Orpheus" oder "Die Sieben Todsünden".
Strawinskys "Sacre du Printemps" mit seiner archaischen Wucht und visionären Kraft ließ 1975 den letzten Kritiker verstummen. Von da an waren die Menschen, ihr Alltag, das Leben selbst, die Vorlage. Pina Bausch entwickelte sich zur Meisterin der Desillusion und Demaskierung.
Wie Jan Minarik, der sich in "Nelken" das Mikrofon ans Herz hält, offenbart sie Gefühlszustände. Dabei ist es ihr nie um Feminismus oder Emanzipation gegangen, sondern darum "was die Menschen bewegt".
Die große Choreografin blickt tief in Seelen, bis in die Kindheit, wo sie die Ursachen von Neurosen, Verstörung, Blockaden und Sehnsüchten vermutet. Deshalb sind ihre Protagonisten oft große Kinder.
"Komm, tanz mit mir" (1977), bittet Jo Ann Endicott wie ein kleines Mädchen, Lutz Förster übersetzt in "1980" das Lied "The Man I love" in Gebärdensprache, Jan Minarik baut sich in "Wiesenland" (2000) eine Arche auf grünem Grund.
Viele der kleinen Geschichten haben eine autobiografischen Kern. In keinem Ensemble der Welt bringen die Künstler ihre Erfahrungen und ihre Persönlichkeit so stark ein wie im Wuppertaler-Kollektiv.
Gespielt wird nach wie vor auf Spielwiesen der Erinnerung, in Seelenlandschaften und Naturkulissen. Pina Bauschs Lebensgefährte und Bühnenbildner Rolf Borzik gestaltete sie bis zu seinem frühen Tod 1980, seither führt Peter Pabst die Tradition fort.
In einigen jüngeren Werken arbeitete er mit Videomaterial, davon ist man zuletzt wieder abgekommen. Geblieben ist Pina Bauschs perfektionierter Montagesstil. Verfremdung, bei Brecht Methode, kommt hier aus dem Bauch. Bis Ende der 90er Jahre sind die Stücke geprägt von skurriler Poesie, radikaler Brutalität und grotesker Komik. Allzu gern scherzt der Humor mit dem Grauen.
Das Spätwerk ist milde gestimmt. Die Trotzkinder sind groß und brav geworden. Es wird nicht mehr an den Haaren gezogen, niemand rennt mehr gegen die Wand. Der Umgangston ist zivilisiert und zärtlich. Der Trend ging gar zur Überversorgung. In "O Dido" wird gefüttert bis zur Atemnot, gestreichelt bis zur Gefühllosigkeit, entspannt bis zur Bewusstlosigkeit. Auch die Wellness-Welle ist verebbt.
Heute betört die Diva des Tanztheaters mit einer Poesie von asiatisch anmutender Sanftheit. Oder sie setzt ihrer Formkraft einen Hauch ordinärer Lebendigkeit entgegen. Oder lässt ihre atemberaubenden Tänzer und Tänzerinnen einfach tanzen. Und auch sie selbst stand noch auf der Bühne, tanzte etwa den Part der Nachtwandlerin in dem Stück "Café Müller" von 1978.
Sollte ein Thema zu erkennen sein, hat die Bausch es mitgebracht aus den koproduzierenden Ländern wie Portugal, Italien, Brasilien, Japan oder zuletzt Korea. Denn die neueren Stücke sind bis auf eine Ausnahme alle Reisetagebücher. Ihr letztes Stück war eine Koproduktion mit Chile, doch mit dem südamerikanischen Land hatte es wenig zu tun.
Die Choreografin mit Kultstatus sah sich, wie vor dreißig Jahren, immer wieder der Kritik ausgesetzt: der Touristenblick, die Selbstzitate, der fehlende Biss. Das Publikum aus aller Welt aber feierte sie hingebungsvoll. Jahr um Jahr.
Die Weg nach Wuppertal war eine Wallfahrt. Gerade beim Tanzfest im November konnte man sich noch einmal von Pina Bausch berauschen lassen. Am 27. Juli wäre sie 69 Jahre alt geworden. Ihr neues Stück wird wohl namenlos bleiben.