Ruhrtriennale: Getanzte Suche nach der Erlösung
Alain Platels „Pitié! Erbarme Dich“ feierte Uraufführung.
Bochum. Alain Platel ist der Erlöser unter den zeitgenössischen Theatermachern. Im Alltäglichen sucht er das Erhabene, gibt dem Elend Raum in seinem Werk, befreit die Seelen in seinem "Bastardtanz", spendet mit himmlischer Musik Trost. Gutmenschelei, die kaum erträglich wäre, gestaltete sie sich nicht so wunderschön.
Platels mit der Ruhrtriennale produzierte Passionsspiele sind internationale Erfolgsstücke: 2003 bespielte er mit Mozart die Vorstadtgettos ("Wolf"), 2006 entdeckte er in Monteverdis Marienvesper das Leid der Obdachlosen ("VSPRS"). Bei der Uraufführung der Produktion "Pitié! Erbarme dich!" in der Bochumer Jahrhunderthalle predigt er nun Nächstenliebe mit Bachs Matthäuspassion.
Mit seiner weltberühmten Compagnie C. de la B. bevölkert eine Multikulti-Truppe die Bühne. Sie hauchen letzte Worte zum Tode Verurteilter hinein wie "I didn’t kill him. I wanna thank my family". Tierfelle hängen herab - wird doch jemand zur Schlachtbank geführt.
Vorn ein Abendmahlstisch, an dem die drei Sänger sitzen. Countertenor Serge Kakudji im Jesus-Shirt und Sopranistin Claron Mc Fadden teilen sich den Heiland, sozusagen als Jesus und Maria Magdalena, während Mezzosopranistin Cristina Zavalloni Maria interpretiert - eine Rolle, die bei Bach nicht vorgesehen ist.
Fabrizio Cassols Komposition nimmt Bachs Original die Schwere, die barocken Verzierungen. Soul, Jazz, Gospel klingen an. So wenig wie Platet scheut Cassol das Profane, das das Erhabene nur umso größer scheinen lässt. Auch färbt der Komponist die Harmonien bunt, ja soulig-schwarz wie die Arie "Blute nur, du liebes Herz". Dreistimmig erklingt das "Erbarme dich", geht es doch um Gnade für die Menschheit.
Seine Streetdance-Jünger stürzt Pantel in extreme Gefühlsausbrüche, schützt sie aber gleichzeitig durch eine feine Haut aus Ironie. Zweisamkeit bedeutet Aggression: das Zerren an Hautfalten, Aneinanderklatschen von Oberkörpern, Ziehen an Haaren. Platel, studierter Heilpädagoge, offenbart die seelische Versehrtheit im körperlichen Defizit wie einst Pina Bausch: im Zwanghaften. Schreie, Tritte, geballte Fäuste.
Und Zittern - ein Stottern des Körpers. Doch Platel entlässt uns mit etwas Hoffnung. Wenn Paare in gewaltloser Umarmung zueinander finden, ist es, als sei die Welt zur Besinnung gekommen. Wenigstens für den Moment. Standing ovations.
120 Min., keine Pause, 4., 6., 7. September, Jahrhunderthalle Bochum