Ruhrtriennale: Düsteres Utopia zum Auftakt

Festival: Die Ruhrtriennale startet in Bochums Jahrhunderthalle mit dem anarchistischen Märchen „Die vergessene Straße“.

Bochum. Sie schleppen schwer an ihren Köpfen, die Schauspieler aus Gent, mit denen Johan Simons "Die vergessene Straße" inszeniert hat. Die beeindruckenden Masken aus Pappmaschee wirken wie Holzköpfe, die das Denken in Richtung Neues verstellen.

Das Experiment, das der flämische Autor Louis Paul Boon (1912-1979) in seinem Roman aus den 40er Jahren beschreibt, ist eher ein unfreiwilliges. Durch den Bau einer Bahntrasse wird eine Sackgasse von der Stadt abgeschnitten. Die Anwohner nehmen die Isolation zum Anlass, ein Utopia zu errichten.

Der Kneipenbesitzer Sadeleer, der mit seinen versalzenen Pommes und entsprechendem Bierausschank zu Geld gekommen ist, wird mit sanftem Druck und harter Überzeugungsarbeit von "Chefideologe" Kolie dazu gebracht, zu teilen. Gemeinsame Mahlzeiten führen die Nachbarn zusammen, sie öffnen ihre Häuser (die Sperrholzwände, mit denen die Häuserfront zwischen Bauzaun und Lagerhallenfassade angedeutet ist, werden aufgeschoben), reißen die Pflastersteine heraus und pflanzen Blumen.

Das Schrebergartenglück inszeniert Johan Simons als Höhepunkt des anarchistischen Rausches. Licht durchflutet die Jahrhunderthalle, die drei Musiker - als Miniaturausgabe einer flämischen Blaskapelle - legen sich ins Zeug, die Menschen tanzen. Das Publikum am Premierenabend, geschmückt mit NRW-Politprominenz, hält sich zurück. Dass Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sich vom Anarchismusplädoyer berauschen lassen würde, war auch nicht zu erwarten.

Zweifel sind angebracht: Woher beziehen die eingesperrten Anwohner ihre Lebensmittel? Von einem Schlupfloch ist die Rede, - dann wären sie ja nicht abgeschnitten! Boon ging es wohl eher um das Gedankenexperiment mit menschlichen Verhaltensweisen. Das mag im Roman, der auf Deutsch nicht vorliegt, vertieft sein, bleibt auf der Bühne aber plakativ wie ein anarchistisches Märchen.

Regisseur Johan Simons ist jedoch kein naiver Utopiegläubiger. Er erzählt über die Körper eine andere Geschichte. Diese schwerfällig tapsenden Wesen passen nicht zur Aufbruchstimmung, die ihnen der Text in den Mund legt. Zwar klammern sie sich oft hoffnungsvoll aneinander, lauschen auch andächtig Kolies Worten, aber immer wieder sinken sie in sich zusammen. Zudem zieht sich eine angedeutete Erzählung über Sex und Gewalt durch den Abend: Die junge Roza scheint schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht zu haben, würde sie sonst eine männliche, obszön entkleidete Puppe mit sich herumschleppen?

Die Bewohner der "vergessenen Straße" scheinen eher in ihren Trieben als durch den Bauzaun gefangen. "Wir müssen vorwärts", lautet der letzte Satz. Aber da sind die Wände längst wieder zugeschoben, und die Menschen liegen erschöpft am Boden. Am Leben und an der Utopie verzweifelt. 2 ¼ Std. ohne Pause. Auff.: 25., 28. und 30. August, 20 Uhr, Jahrhunderthalle Bochum.