Uraufführung in Hamburg Steckels Familienrevue „Das achte Leben“ fasziniert

Hamburg (dpa) - Eine betagte Dame, die ihre Haare mädchenhaft zu Zöpfen geflochten hat, kniet auf dem Fußboden und putzt energisch einen Teppich. Damit mache sie das alte Stück neu - also anders, verkündet diese Stasia ihrer Urenkelin Niza.

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Und erklärt, wie ein Teppich sei auch eine Familie ein Gewebe aus lauter Fäden. Das Besondere seien nicht die Einzelnen, aber: „Wenn man sie im Zusammenhang sieht, ergeben sich fantastische Dinge.“ Ein riesiger roter Teppichläufer bildet fortan den Hintergrund für die Bühnenversion des Romans „Das achte Leben (Für Brilka)“ der in Georgien geborenen und in Hamburg lebenden Nino Haratischwili am Hamburger Thalia Theater (Bühnenbild: Florian Lösche).

In dessen Webmuster sind auch die Köpfe von Marx, Lenin, Stalin, Putin und anderer Politgrößen erkennbar. Und über den Teppich flimmern zu häufig lautstarker Musik immer wieder historische Filmaufnahmen von Kriegen und Revolutionen, Aufmärschen und - niedergeschlagenen - Demonstrationen.

Das inzwischen in achter Auflage erschienene Buch der preisgekrönten, auf Deutsch schreibenden Romanautorin und Dramatikerin Haratischwili („Land der ersten Dinge“) erzählt über mehrere (Frauen-)Generationen die Geschichte einer georgischen Familie. Aus der 1280-Seiten-Saga hat die junge Starregisseurin Jette Steckel eine packende dramatische Revue kreiert, die sich zwischen wuchtiger Opulenz und schwebend feiner Kargheit bewegt.

Bei der Uraufführung am Samstagabend ließ sich das Publikum in Anwesenheit der Autorin des Jahrgangs 1983 von dem dichten, schauspielerisch glänzenden Fünf-Stunden-Abend in den Bann ziehen. Es reagierte mit stürmischem Beifall im Stehen auf die Fassung, deren Text Steckel gemeinsam mit Emilia Heinrich und Julia Lochte verantwortet. Ein „Who Is Who“ des Thalia-Ensembles verkörpert das Schicksal der Jaschi-Sippe, die ihren Anfang nimmt, als Stasia (Barbara Nüsse) kurz vor dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution den Soldaten Simon (Mirko Kreibich) heiratet, von dem sie ihre Kinder Kostja (Sebastian Rudolph) und Kitty (Maja Schöne) bekommt. Den sie aber nie wieder sehen wird. Gemeinsam mit ihrer Schwester Christine (Karin Neuhäuser) hält Stasia von nun an ihre Familie zusammen.

Allen Zeitläufen zum Trotz - zu denen in der zwischenzeitlichen Sowjetunion Bespitzelung, Verhöre, Zwangsabtreibung und Aufenthalte im Gulag gehören: Sohn Kostja macht erst steil Karriere in der Nomenklatura, um dann als Alkoholiker zu enden - immer aber bleibt er ein Jaschi. Der bald hundertjährigen Matriarchin gelingt es nach 1989 schließlich, die Ihren mit dem Backen und Verkaufen von Schokoladentorten nach uraltem Familienrezept durch die blutigen Geschehnisse beim Fall des Eisernen Vorhangs zu bringen. Dennoch hat sie am Ende das Gefühl, das alles im Leben ihr entglitten sei - so wie auch ihre stille Zuneigung zur freiheitsliebenden Dichterin Sopio (André Szymanski).

Von „närrischer Liebe“ zu Stasia ist da ihre Urenkelin Niza (Lisa Hagmeister) erfasst. Die burschikos-sensible junge Frau möchte alle Erlebnisse der Jaschis an ihre tanzwütige Nichte Brilka (Kreibich) weitergeben. Die ist in Richtung England aufgebrochen, um nach ihrer toten Tante Kitty zu forschen, die - unfreiwillig ausgebürgert - im Westen Karriere als Sängerin gemacht hatte. Wohl damit die Ururenkelin im 21. Jahrhundert die Muster erkenne, die seit ihrer Geburt auch ihre Seele prägen: Da ist einerseits die Gewalt, die durch die politischen Verwerfungen das persönliche Leben der Jaschi-Frauen immer wieder zerstört hat. Da ist aber auch die Liebe zur Kunst, zu Tanz, Gesang und Dichtung, die vielleicht so etwas wie ein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen vermag.