Tanzen für die toten Kinder
Die Ballett-Compagnie Mönchengladbach-Krefeld verarbeitet den Flugzeugabsturz von Überlingen.
Mönchengladbach. Wie tanzt man das Unfassbare? Der Choreograf Robert North sucht seit Monaten eine Antwort auf diese Frage, und er hofft, dass er sie gefunden hat. Er möchte jenen Eltern gerecht werden, die vor zehn Jahren ihre Kinder verloren haben. „Ich will ihren Schmerz verstehen“, sagt er. „Und gleichzeitig bin ich vorsichtig, dass mein Ballett nicht zu schmerzlich für sie wird.“
Die Geschichte, die North erzählt, beginnt in rund 11 000 Metern Höhe: Am 1. Juli 2002 stießen nahe Überlingen am Bodensee zwei Flugzeuge in der Luft zusammen. Sie stürzten ab und rissen 71 Menschen in den Tod, darunter 49 Kinder aus der russischen Stadt Ufa. Als Belohnung für gute Leistungen sollten die hochbegabten Schüler ein Ferienlager in Spanien besuchen.
Stattdessen wurden es „Verlorene Kinder“, wie North sein Ballett genannt hat. Mit der gesamten Compagnie fliegt der Chef-Choreograf des Theaters Krefeld-Mönchengladbach Ende Juni nach Moskau. Vor 700 geladenen Gästen findet dort die Welturaufführung statt. Im Publikum sitzen auch die Eltern der Opfer. „Sie sind uns wichtig“, sagt der US-Amerikaner. „Für sie müssen wir die richtige Sprache finden.“
Das beginnt schon mit der Musik. André Parfenov hat sie komponiert, er ist am Niederrhein als Solopianist und Repetitor engagiert. Parfenov ist in Ufa aufgewachsen, ihn verbindet eine Freundschaft mit Professor Alexander Degtjarew, der bei dem Absturz seinen 14-jährigen Sohn Kyrill verloren hat. Mit ihm gemeinsam kam er auf die Idee, das Unglück zum zehnten Jahrestag künstlerisch zu verarbeiten.
Parfenov, der selbst zwei Kinder hat, setzte sich ans Klavier und begann zu komponieren. „Ich habe die Blätter immer wieder zur Seite gelegt“, sagt er. „Ich konnte das nicht.“ 2011 fuhr er an den Bodensee, besuchte die Absturzstelle, sprach mit Zeugen. „Plötzlich wurde mir klar: Wenn ich das nicht mache, macht es keiner. Vielleicht ist das die wichtigste Arbeit in meinem Leben.“ Dann schrieb er das Stück „Der Maler“, das von Kyrill handelt, dem Sohn seines Freundes.
Als die Partitur fertig war, flog Parfenov nach Ufa. Er wollte die Eltern der getöteten Kinder vor Ort selbst von seiner Idee überzeugen. „Es gab zuerst unterschiedliche Meinungen“, schildert der Pianist. „Manche wollten nichts mehr von der Sache hören.“ Doch am Ende hatte Parfenov sie überzeugt: „Es hat geholfen, dass ich aus Ufa stamme und selbst Kinder habe.“
Ursprünglich sollte das Ballett erstmals in der baschkirischen Millionenstadt gezeigt werden, doch Parfenovs Freund Degtjarew, der unter Putin die Karriereleiter erklommen hatte, verlegte die Uraufführung in ein großes Moskauer Theater.
Die Gäste werden einen Abend erleben, der neben Schock und Trauer auch positive und witzige Szenen enthält. North beginnt mit der Kollision und der Reaktion der Eltern, die von der Nachricht buchstäblich zu Boden geworfen werden. Doch dann beginnt ein Reigen zumeist glücklicher Erinnerungen. „Die Tänzer werden zu Kindern“, erklärt North. Wie in einem bewegten Fotoalbum blättert North durch die Vergangenheit der verstorbenen Kinder.
Wie die Eltern darauf reagieren, mag niemand vorhersagen: „Wir sind auf jede Reaktion vorbereitet“, sagt Parfenov.