Zehn Inszenierungen Theatertreffenchef: Zeit der Sonnenkönige ist vorbei

Berlin (dpa) - Mit Frank Castorfs siebenstündiger „Faust“-Inszenierung startet am Freitag (4.5.) das 55. Theatertreffen deutschsprachiger Bühnen. Insgesamt zehn ausgewählte Regiearbeiten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind bis zum 21. Mai in Berlin zu sehen.

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„Die Auswahl des diesjährigen Theatertreffens steht für ein sehr lebendiges, spielerisch kraftvolles Stadttheater“, sagte Theatertreffen-Leiter Daniel Richter (42) im Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Die Inszenierungen rütteln an unserem mitteleuropäischen Selbstverständnis, das weiß, männlich und privilegiert ist.“

Frage: Was ist das „bemerkenswerte“ an den zum diesjährigen Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen?

Antwort: Auffällig ist, dass alle Inszenierungen sehr vertraute Geschichten in neuen Versionen erzählen. Geschichten, die vor dem Hintergrund anderer Perspektiven und Erfahrungen umgeschrieben werden. Oft sind Figuren auf der Bühne zu sehen, die eine individuelle Wahrnehmung auf unsere Realität und Gegenwart haben. Bei Karin Henkels „Beute Frauen Krieg“ vom Schauspielhaus Zürich zum Beispiel wird der antike Stoff von Euripides aus komplett weiblicher Perspektive erzählt. Plötzlich erscheint die Erzählung über den trojanischen Krieg nicht mehr als männliche Heldengeschichte, sondern auch als Geschichte über männliche Gewalt und ihre weiblichen Opfer.

Frage: Gibt es weitere Beispiele?

Antwort: Auch bei Frank Castorfs „Faust“-Inszenierung ist die Perspektive neu. Der Ur-Klassiker des deutschen Kanons wird von Castorf aus den Fesseln gängiger Interpretationen befreit. Plötzlich geht es um Kolonialismus, Finanzkapitalismus und Gender-Fragen - all das, was unsere Zeit gerade auf den Prüfstand stellt. Oder Jan Bosses Burgtheater-Inszenierung „Die Welt im Rücken“ nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Melle: Der virtuose Schauspieler Joachim Meyerhoff verkörpert in einem großen Monolog die Hauptfigur - das Alter Ego von Autor Melle, der unter manisch-depressiven Schüben leidet. Plötzlich erscheint auf der Bühne die Biografie eines Mannes, der unsere als „normal“ empfundene Realität komplett anders wahrnimmt und sein Verhältnis zur Wahrheit anders beschreibt. Die Auswahl des diesjährigen Theatertreffens steht für ein sehr lebendiges, spielerisch kraftvolles Stadttheater. Die Inszenierungen rütteln an unserem mitteleuropäischen Selbstverständnis, das weiß, männlich und privilegiert ist.

Frage: Sieben Stunden Castorfs Volksbühnen-„Faust“ zum Festivalauftakt - kalkulieren Sie mit ein, dass sich da die Reihen im Laufe des Eröffnungsabends etwas lichten?

Antwort: Castorfs Faust ist ein so überbordendes Theater-Großspektakel, das die Menschen ganz gewiss an die Theatersessel fesseln wird. Nicht nur die besondere Lesart des „Faust“ macht die Inszenierung so bestechend. Der Abend bildet noch einmal das ab, was die ganze Castorf-Ära geprägt hat: die fantastischen Schauspieler mit ihrer Volksbühnen-Spielweise, die sehr expressiv und körperlich ist. Es ist eine Hommage an die tollen Castorf-Jahre.

Frage: Was sagen Sie zum Abgang von Chris Dercon?

Antwort: Es gab ja im Vorfeld eine auf vielen Seiten sehr unsachlich geführte Diskussion. Ich glaube, für die Volksbühne ist es jetzt die richtige Entscheidung. Ich hoffe, dass das Haus wieder befriedet werden kann. Mit der kulturpolitischen Entscheidung für Dercon ist Berlin ein großes Schauspieler-Theater verloren gegangen, das über 25 Jahre ein ganz großes kreatives Kraftzentrum war, das weit über die Grenzen Deutschlands hinaus gewirkt hat.

Frage: Volksbühnen-Interimschef Klaus Dörr hat eine Struktur mit mehreren prägenden Regisseuren ins Spiel gebracht. Wäre eine Art Kollektiv-Intendanz das richtige für die Volksbühne?

Antwort: Man kann nur hoffen, dass eine sehr besonnene Entscheidung getroffen wird. Kurzfristig ist mit Klaus Dörr ein absolut erfahrener Theaterleiter berufen worden, der bestens vernetzt und mit der Berliner Theaterszene seit vielen Jahren vertraut ist. Das schafft Hoffnung, die Volksbühne wieder zum Blühen zu bringen.

Frage: Ist es überhaupt noch zeitgemäß, eine Intendantin oder einen Intendanten als Alleinherrscher zu haben?

Antwort: Das Theater als Kreativmodell und Reflexionsort der Gesellschaft lebt stets von sehr vielen starken Schultern und klugen Köpfen und nicht von einer Einzelperson. Das Sonnenkönig-Modell der Alleinherrschaft hat längst ausgedient und damit auch ein System der Ungleichheit und Willkürherrschaft.

ZUR PERSON: Daniel Richter (42) ist seit 2017 Leitender Dramaturg des Theatertreffens. Als Dramaturg arbeitete er unter anderem auch am Deutschen Nationaltheater Weimar, dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Berliner Maxim Gorki Theater. Für die Berliner Festspiele übernahm er im Jahr 2010 die Leitung des Stückemarkts des Theatertreffens und von 2015 bis 2017 die Leitung des Internationalen Forums. Bei der Theatertreffen-Leitung vertritt Richter derzeit Yvonne Büdenhölzer, die in Elternzeit ist.