Eine Künstlerin auf Reisen — auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Das Frankfurter Städel-Museum widmet Ursula Schulz-Dornburg eine große Retrospektive. Mit einer analogen Handkamera spürt sie Relikte vergangener Kulturen auf.
Frankfurt. Ursula Schulz-Dornburg ist die Poetin des Lichts in der Fotokunst. Es ist bei ihr nie künstlich, es kommt ungefiltert vom Himmel. Fokussiert wird es von Menschenhand in den minimalistisch strengen Einsiedeleien am Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Das Licht ist der ewige Begleiter in den Ruinen in der Wüste, in den „Verschwundenen Landschaften“ Mesopotamiens. Es gleitet sacht über aufgegebene Eisenbahnschienen, die ans Osmanische Reich erinnern, und es ergießt sich über die verfallenen Bushaltestellen aus der sowjetischen Ära in Armenien. Menschen stehen in den futuristisch anmutenden Haltestellen und warten auf einen Bus, der möglicherweise nie kommen wird. Es geht diesen Passagieren wie ihr um die Erfahrung von Zeit. Im Städel-Museum findet die längst fällige Retrospektive dieser großen Künstlerin statt.
„Aufgebaut mit vom Himmel gefallenen Steinen — herunter — hinauf“ steht auf ihrer Hausfassade in Düsseldorf-Oberkassel. Der Spruch stammt vom Konzeptkünstler Lawrence Weiner, mit dem sie seit ihrem Aufenthalt 1967 in New York befreundet ist. Von ihm und seinesgleichen unter den US-amerikanischen Konzeptkünstlern und Minimalisten ist ihre Kunst beeinflusst. Von den Bechers übernahm sie lediglich die klare Ansage, bei neutralem Himmel zu fotografieren und dramatische Wolken zu vermeiden. Vermutlich wäre sie auch selbst darauf gekommen, denn ihre Motive liegen nicht in Industriegebieten, sondern in jenen Gegenden, wo der Himmel unendlich ist und wo der Horizont „die Nulllinie der Menschheit“ bildet, wie sie sagt.
Eine Künstlerin auf Reisen, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ihre Bilder sind nicht vollgestellt mit effektvollen Motiven, sondern sie zeigen eher Leerräume. Mesopotamien, die Wiege der Zivilisation, gehört zu den „verschwundenen Landschaften“. In den weiten Ebenen spürt sie die Überreste von Städten auf, die vor Jahrtausenden blühten und heute unter einer mondähnlichen Hügel- und Sandoberfläche kaum noch sichtbar und lesbar sind.
Wie nimmt man Orte des Vergessens und des Verschwindens auf? Mit einer Mittelformatkamera von Hasselblad bewaffnet, im Auto mit Vierrad-Antrieb, in Begleitung eines ortskundigen Führers, machte sie sich jahrzehntelang auf den Weg. Sie fuhr die willkürlich von Machthabern gesetzte Grenze zwischen Georgien und Aserbaidschan ab, um in verlassenen Wohnhöhlen und Höhlenklöstern nach den Resten der Architektur zu schauen.
Ihre Kunst ist nicht spektakulär im Sinne einer opulenten, raffinierten, koloristischen Kamerakunst, sondern sie erstaunt durch die feinsten Grau-Nuancen. Sie wirkt wie eine Meditation über den Lauf der Welt und ihrer Geschichte. Zwar geht es zuweilen um Reflexionen über Niederlagen in den Machtspielen zwischen Staaten und ethnischen Minderheiten oder um gescheiterte Illusionen, aber dies geschieht niemals als Anklage. Wenn die Hedschas-Eisenbahn, durch die Wüste geplant, nur noch in funktionslosen Bahnstationen und verrotteten Gleisen zu erkennen ist, so wirkt dieses einstige Prestige-Projekt heute eher surreal. Man müsse nicht alles erklären, sagt sie. Die Erinnerung an ein Imperium verblasst in Sand oder Hitze.
Ursula Schulz-Dornburg interessiert sich in ihren analogen Schwarz-Weiß-Fotos für geschichtliche, politische, kulturelle und archäologische Ablagerungen. Manches erinnert an Hilla und Bernd Becher, wenn sie die Steinquader eines Grabmals frontal ins Bild bringt, wenn sie auf die Architektur der Haltestellen akribisch genau achtet oder die Ruinen von Opytnoe Pole wie eine Typologie von verschiedenen Seiten fotografiert. Aber ihre Reihungen sind flexibel. Das wird im Städel-Museum deutlich, wo ein leichter Rhythmus durch die Anordnungen geht.
Selbst im radioaktiv verseuchten Testgebiet der Sowjets, wo vier Jahre nach Hiroshima die zerstörerische Energie der Atombomben an Betonbauten ausprobiert wurde, klagt sie nicht an. Die Gebäude scheinen im hellen Nichts beheimatet zu sein. Nur den Hund, der dort sein Leben ließ, fügt sie im gefundenen Foto wie ein Memento Mori hinzu.
Die Katastrophen, die Golfkriege, die Syrienkriege, das Gemetzel scheint über Euphrat und Tigris, über Syrien, über den Irak hinweggezogen zu sein. Was bleibt, ist eine merkwürdige Stille.
Aus ihrer Wohnung in Düsseldorf hat Schulz-Dornburg gebrauchte Holzstühle, Schemel und eine alte Bank mitgebracht. Der Kunstgänger soll Platz nehmen und schauen. Vielleicht gelingt ihm jener demütige Blick, den auch sie hat, im Angesicht dieser alle Zeiten überdauernden Orte. Die 80-jährige Künstlerin selbst ist scheu wie ein Reh. Am liebsten würde sie alles abschütteln, was ihre eigene Person betrifft. Dennoch ist sie eine große Persönlichkeit. Ihr Vater war Geologe und Architekt, ihr Onkel Fotograf, ihre Mutter hat die Gerda-Henkel-Stiftung ins Leben gerufen, die alle zwei Jahre einen hoch dotierten internationalen Wissenschaftspreis ausschreibt. Sie selbst nennt sich gern eine „Aktivistin“, die von den 1968er Jahren beeinflusst wurde. Sie studierte Ethnologie und Zoologie in München, wechselte ans Institut für Bildjournalismus und wurde weniger mit der Technik der Kamera als mit politischen Inhalten konfrontiert.
Heute hilft sie, wo sie kann, aber im Stillen, etwa als Mitglied der Wuppertaler Else Lasker Schüler-Gesellschaft, die 2014 mit der Bürgerstiftung für verfolgte Künste fusionierte, die wiederum im Kunstmuseum Solingen-Gräfrath beheimatet ist.
Sie gibt sich bedürfnislos, wenn sie über die Rheinbrücken radelt. Bis 2012 übte sie den „Ausbruch aus dem Provinzialismus“, wie sie es nennt. Die Reisen, die sie heute nicht mehr unternimmt, waren beschwerlich und zuweilen nicht ganz ungefährlich. Die Ergebnisse zog sie jahrzehntelang selbst in der Dunkelkammer ab. Jetzt nimmt sie dazu Jürgen Steck vom Fotostudio 13 zur Hilfe, mit dem sie „wunderbar kommuniziert“, wie sie sagt.
Ihr großes Archiv betreut sie zu Hause. Seit sechs Jahren fotografiert sie nicht mehr.