Historiendrama: Wilde Macht der Liebe
„Poll“ überzeugt mit großen Bildern und Gefühlen.
Das Haus ist auf Stelzen in die See hineingebaut, als wollte es mit purer Ignoranz der Gewalt der Elemente trotzen. Ein stimmungsvoller Ort für eine Geschichte, die sich ihrer eigenen Poesie anvertraut.
Mit „Poll“ reist Regisseur Chris Kraus („Vier Minuten“) auf den biografischen Spuren seiner Tante Oda Schaefer (1900-1988) zurück ins Estland des frühen 20. Jahrhunderts, wo der verkannte Hirnforscher Ebbo von Siehring (Edgar Selge) auf dem Familiengut seinen Studien nachgeht. Seine 14jährige Tochter Oda (Paula Beer) kehrt nach dem Tod der Mutter ins Baltikum zurück, will sich aber nicht einfinden in den müßigen Alltag des deutschen Landadels.
Als sie in einem Nebengebäude einen verletzten Mann findet, beschließt sie, den estnischen Anarchisten und Dichter auf dem Dachboden gesund zu pflegen und entdeckt in der platonisch-romantischen Beziehung die eigene Liebe zum Schreiben.
Die wilden, aufkeimenden Gefühle des Mädchens stehen in wirkungsvollem Kontrast zum Verfall des selbstgefälligen Adels am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Lange hat man keinen deutschen Film mehr gesehen, der die Atmosphäre einer Epoche mit einer solchen Kraft illustriert. Kostüme, Kulissen, Licht und Landschaft summieren sich zu einer visuellen Sogwirkung, der man sich gerne ergibt.
Hinzu kommt das hervorragende Ensemble. Edgar Selge ist famos als verschrobener Wissenschaftler, aber das tatsächliche Epizentrum von „Poll“ ist die als Schauspielerin bisher unerfahrene Paula Beer, die mit stiller Kraft und unerschütterlicher Präsenz für sich einnimmt.