„Michael“: Beklemmendes Misshandlungsdrama
Paris (dpa) - Um das Schreckliche zu zeigen, braucht Markus Schleinzer keine Schockbilder. Die Suggestivkraft des Spiels, der Orte und der Atmosphäre reichen, um das Unsagbare, Unvorstellbare und Unfassbare darzustellen.
In dem Pädophiliedrama „Michael“ beobachtet der österreichische Regisseur Markus Schleinzer das unfreiwillige Zusammenleben des zehnjährigen Wolfgang mit dem 35-jährigen Michael. Er zeigt wie sie gemeinsam essen, Geschirr waschen und putzen. Hinter die schwere Eisentür zu dem Unsagbaren nimmt der Österreicher den Zuschauer jedoch nicht mit.
Das Drama kommt ohne reißerische und schockierende Misshandlungsszenen aus und lebt allein von der Spannung des Suggestiven. Darin liegt auch die Stärke des Films, der beim Internationalen Filmfestival in Cannes zeitweise sogar als Favorit im Wettstreit um die Goldene Palme gehandelt wurde.
„Ich wollte etwas schaffen, dem man sich aussetzen muss“, erklärte Schleinzer. Und das den Zuschauer auf eine harte Probe stellte. Der Film ist extrem beklemmend und spielt mit der Angst, irgendwann doch hinter der Eisentür den Missbrauch mitzuerleben. Doch diesen Aspekt des Dramas wollte der Österreicher bewusst nicht zeigen. „Ich wollte keinen Film machen, der in irgendeiner Form Voyeurismus betreibt“, sagte der Regisseur in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa.
Schleinzer geht in seinem Erstlingsfilm auf Distanz. Bewusst. Er wollte keine Etiketten schaffen. Michael wird nicht als Monster dargestellt. Vielleicht hat das in Cannes gestört. Denn der Film wurde nicht nur applaudiert. „Ich wollte weder eine Täter- noch eine Opferposition ergreifen“, erklärte der Österreicher.
Man kann nicht umhin, bei dem Film an den Fall Natascha Kampusch zu denken, auch wenn der Regisseur behauptet, er habe sich nicht von dem österreichischen Fall inspirieren lassen. Monate lang hatte die Geschichte um das entführte, mehr als 8 Jahre eingesperrte und 2006 geflohene Mädchen weltweit für Aufsehen gesorgt. Ausschlaggebend für dieses Thema sei ein Plakat in Berlin gewesen, auf dem stand, dass in Deutschland jährlich 48 000 Kinder verschwinden, sagte er in einem Interview.
Beklemmend, still, kühl, angespannt: Ein Film, der unter die Haut geht und polarisiert. Was er in Cannes auch getan hat. „Der Film war eine Gratwanderung. Ein solch gefährliches Thema muss die Meinungen spalten. Hätte ich nur Applaus gewollt, hätte ich ein anderes Thema aussuchen müssen“, so Schleinzer.
Schleinzer hat zwar mit „Michael“ seinen Debütfilm gedreht. Ein Anfänger ist der Wiener jedoch bei weitem nicht. Als Schauspieler wirkte er in „Slumming“ und die „Die Räuber“ mit und als Casting-Direktor war er für mehr als 60 Film- und Fernsehproduktionen verantwortlich. Eine Erfahrung, die man seiner Besetzung ansieht: Michael Fuith spielt das Doppelleben des biederen Michaels ebenso überzeugend wie David Rauchenberger die Rolle des Jungen.
Als Casting-Chef bei Michael Haneke („Das weiße Band“) hat Schleinzer besonders viel gelernt. Nicht nur, weil er für „Das weiße Band“ viel über Kinder gelernt hat. Sein Film trägt auch eindeutig die filmtechnische Handschrift Hanekes: kalt-distanziert, streng und still.