Schonungslose Lampedusa-Doku: „Eine Tragödie vor unseren Augen“

Berlin (dpa) - Keine Frage, es sind widersprüchliche und verstörende Bilder, die Gianfranco Rosi in seiner Dokumentation „Fuocoammare“ (Feuer auf See) über den Alltag auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zeigt: Inselidylle und Alltag der Bewohner auf der einen Seite, Horror der Flucht auf der anderen.

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Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht der Regisseur des Wettbewerbsbeitrags über sein Jahr auf der Insel und was er vom Treffen zwischen George Clooney und Angela Merkel hält.

Frage: Sie tragen einen Anstecker an der Jacke, auf dem Koordinaten zu lesen sind. Wofür stehen die Zahlen?

Antwort: Es sind die Koordinaten von Lampedusa. Koordinaten spielen eine Rolle im Film. Wenn die Flüchtlinge in Libyen starten, bekommen sie meist ein Satellitentelefon. Auf hoher See rufen sie damit dann die italienische Küstenwache zur Hilfe und geben die Koordinaten durch. Es sind die Stimmen der Verzweiflung.

Frage: Ihr Film zeigt zwei völlig unterschiedliche Seiten: den Alltag der Bewohner, vor allem des zwölfjährigen Jungen Samuele und das Schicksal der Flüchtlinge bis hin zum Tod auf der Flucht. Richtige Berührungspunkte zwischen beiden Welten gibt es aber kaum...

Antwort: Paradoxerweise gibt es auf Lampedusa keine Interaktion zwischen beiden Welten. Denn inzwischen hat sich die Rettung der Flüchtlinge ja auf das offene Meer verschoben. Die Flüchtlingsboote werden dort aufgegriffen. Wenn sie dann im zentralen Aufnahmelager ankommen, gibt es keinen richtigen Kontakt mehr mit dem Menschen vor Ort. Das war vor einiger Zeit noch anders, als die Flüchtlinge überall auf der Insel ankamen. Mir war es wichtig zu zeigen, in welcher Stimmung die Kinder sind. Denn ihre Angst ist auch eine kleine Metapher für die Art und Weise, wie wir Erwachsenen der Flüchtlingskrise begegnen.

Frage: Sind die Menschen auf Lampedusa Helden, wie es im Film zu hören ist?

Antwort: Lampedusa hat niemals eine Mauer gebaut. Die Menschen hatten nie Angst vor den Menschen, die ankamen, und haben sich nie vor ihrer Verantwortung gedrückt. Lampedusa hatte nie Angst vor den Flüchtlingen.

Frage: Wie sehen Sie Ihren Film?

Antwort: Er ist keine Anklage, mein Film hat ein politisches Thema, aber er gibt keine Antworten. Er soll ein Bewusstsein schaffen und ist ein Zeugnis für die Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt und gegen die wir nicht in der Lage sind, politisch etwas zu tun. Die einzige Antwort, die wir geben, ist eine Mauer - keine echte Mauer, sondern eine im Kopf. Es ist die Angst vor jemanden, den wir nicht kennen.

Frage: Hollywood-Star George Clooney hat jüngst mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Flüchtlingskrise gesprochen - wie finden Sie das?

Antwort: Wie oft gibt es solche Treffen und das war es dann. Das ist doch nur Tratsch. Was kann dabei rauskommen, wenn sich George Clooney und Angela Merkel treffen? Die Lösung kann nicht in diesem Augenblick des Glamours gefunden werden.

Frage: Wie kann denn eine Lösung gefunden werden?

Antwort: Das ist eine Krise, eine Tragödie, die ein einzelner Staat nicht lösen kann. Wir können es nicht akzeptieren, dass Zäune geschlossen werden so wie bei Tieren. Die Lösung muss von Europa kommen, von der gesamten Welt. Alle müssen sich bewusst werden über diese Tragödie. In meinen Augen ist es eine der schwersten Tragödien, mit denen Europa seit dem Holocaust konfrontiert ist.

Frage: Warum ist die Berlinale ein guter Ort für Ihren Film?

Antwort: Die Berlinale ist eines der besten Filmfestivals weltweit. Als ich den Film begann, war nicht klar, dass das Thema so aktuell werden würde. In Berlin spielt die Politik eine große Rolle, insofern ist es wichtig, hier zu sein. Die letzte Szene haben wir im Januar 2016 gedreht, als der Film schon für die Berlinale ausgewählt war. Dass er ausgewählt wurde, habe ich auf Lampedusa erfahren.

Frage: Der Film trägt den Titel „Fuocoammare“ - Feuer auf See. Wie kamen Sie darauf?

Antwort: Als ich auf Lampedusa war, gab es einen Song mit diesem Titel. Er war überall zu hören, ich mag ihn sehr. Später sprach die Großmutter von Samuele noch einmal vom Feuer auf See und meinte brennende Schiffe - während des Krieges.

ZUR PERSON: Gianfranco Rosi (Jahrgang 1964) wurde in Asmara, Eritrea, geboren und kam 1977 während des Unabhängigkeitskriegs ohne seine Familie nach Italien. Ab 1984 studierte er in New York. 2013 erhielt er für „Das andere Rom - Sacro GRA“ den ersten Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig für einen Dokumentarfilm. In dem Film geht es um den Autobahnring GRA um Italiens Hauptstadt Rom, abseits der historischen Bauten und dem Dolce Vita der Ewigen Stadt. Für „Fuocoammare“ lebte Rosi längere Zeit auf Lampedusa.