Frau Mutter, Sie haben gerade in einem Interview die Verrohung des Tons und des Umgangs miteinander beklagt. Was meinen Sie genau?
Düsseldorfer Tonhalle Geigerin Anne-Sophie Mutter: „Eine musikalische Umarmung ist antiviral“
Interview | Düsseldorf · Die Violinistin Anne-Sophie Mutter war in der Düsseldorfer Tonhalle zu Gast. Mozart und Vivaldi stehen auf dem Programm.
Anne-Sophie MUTTER: Es bezieht sich auf den politischen Alltag und die Sprache, die im Netz gepflegt wird. Nun wissen wir natürlich schon lange, dass die Anonymität allen möglichen emotionalen Gefühlsausbrüchen Raum bietet, und sie wohl auch dazu geführt hat, dass die Meinungsfreiheit missverstanden wird. Man muss sich einfach zu allem äußern, und das mit Worten, die oft sehr diffamierend und auch anderweitig schwierig sind.
Sie haben durch Corona ein krisengeschütteltes Konzertleben hinter sich. Ist auf Ihrer Tournee eine gewisse Normalität jetzt wieder erkennbar?
Mutter: Die neue Konzertsaison beginnt ja gerade. In Amerika habe ich schon einige Gala-Konzerte gespielt. Aber auch in Europa hofft man natürlich, dass wir in eine Normalität zurückfinden. Die Normalität, die wir im Moment haben, ist je nach Bundesland mit Abstand und Maske oder ohne Abstand und Maske oder mit Maske und ohne Abstand. Da bietet sich jeden Abend ein anderes Bild. Wichtig ist, dass wir wieder Freude am Miteinander haben – mit allen vernünftigen Vorsichtsmaßnahmen. Das bedeutet auch, dass sich das Publikum wieder wohlfühlen soll. Aus der Isolation heraus ist es natürlich eine Riesenfreude, nicht mehr nur Konservenkunst zu genießen, sondern wieder beim Akt der Kreation dabei zu sein.
Eine Uraufführung haben Sie schon hinter sich.
Mutter: Ja, und jetzt folgen natürlich überall Erstaufführungen. Auch in Düsseldorf. Wir haben eine Zugabe, die speziell auf das Ensemble zugeschnitten komponiert wurde. Vom bekannten Repertoire bis zu einem Neutöner ist es eine sehr spannende Klammer, die in zwei Stunden eine Zeitreise durch viele Jahrhunderte ermöglicht.
In vielen Konzertsälen gilt mittlerweile 2G.
Mutter: Ja, wir selbst sind geimpft und werden auch regelmäßig getestet. Backstage tragen wir natürlich Maske, Gottseidank nicht beim Spielen. Also ich bewundere die Orchester oder überhaupt die Künstler, die monatelang mit Maske gespielt haben. Das ist schon eine enorme Einschränkung. Und man bekommt wirklich Sauerstoffmangel. Musizieren ist ja nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine körperliche Herausforderung.
Vivaldi und Mozart stehen am Samstag in der Tonhalle auf dem Programm. Mit auf Tour ist Ihr Solisten-Ensemble.
Mutter: Ja, Mutters Virtuosi feiert in diesem Jahr zehnjähriges Bestehen. Das sind alles Solisten, großartige Musiker, die entweder ehemalige oder aktuelle Stipendiaten sind. Mir war es wichtig, dass ich immer meine Co-Solisten in den Fokus stelle und deshalb beginnen wir den Abend auch mit Vivaldis wunderbarem Konzert für vier Solo-Geigen. Da wir wechselnde Co-Solisten haben, bleibt es sehr abwechslungsreich.
Noch vor der Pause folgt Mozart.
Mutter: Wir spielen sein letztes Streichquintett in Es-Dur. Ein wunderbares Werk, das sehr typisch für Mozarts letzte Jahre ist. Es schwankt zwischen großer Lebensfreude, aber auch einer tiefen Melancholie. Ein herrliches Werk, ein Juwel des Streicherrepertoires. Wir schließen mit den Vier Jahreszeiten, die man tatsächlich immer wieder neu erfinden kann. Wir tüfteln da jeden Abend. Es ist wie mit den Seerosen von Monet: Einmal gemalt, alles festgehalten, was da ist. Nein, dem ist eben nicht so.
Wie erobern Sie das jüngere Publikum?
Mutter: Sicher ist es so, dass in der Corona-Pause viele junge Leute nicht mit Live-Konzerten in Berührung kamen. Und Musik nur noch aus der Retorte möglich war, aber das betrifft ja andere Formen der Kunst genauso. Ich knüpfe da an, wo ich vor Corona aufgehört habe. Ich glaube, dass mit einem breiten Repertoire auch eine breitere Zuhörerschaft interessiert werden kann. Mir bereitet es unglaublich Freude, die Geige in so vielen, unterschiedlichen stilistischen Elementen zu beheimaten. Ernste Musik in den Gegensatz zu Unterhaltungsmusik zu setzen, hat für mich noch nie Sinn ergeben.
Künstler und Musiker hat Corona besonders hart getroffen. Sie forderten immer wieder Unterstützung.
Mutter: Die Diskussion ist ja noch lange nicht zu Ende. Über Streaming haben die Musiker sicher kein Einkommen generiert. Ich kann nur, wie meine Kollegen in der Pop-Branche, darauf hinweisen, dass man mit 500 000 Klicks im Monat – und die haben die wenigsten – rund 500 Euro im Monat verdient. Das reicht zum Leben nun wirklich nicht. Hier muss es für die Künstler viel mehr Unterstützung geben. Wir versuchen natürlich für die nächste Krise gewappnet zu sein: Wir müssen philosophisch und psychologisch neu bewerten, welche Bedeutung Kunst und Kultur für unsere Gesellschaft haben. Eine musikalische Umarmung ist absolut antiviral.
In einem Orchester des Wandels machen derzeit viele Musiker auf den Klimawandel aufmerksam. Was vermissen Sie in der Klimadebatte?
Mutter: Ich glaube, das Allerwichtigste ist, dass tatsächlich jeder Einzelne, wenn möglich täglich überdenkt, wie er konsumiert und wie er reist. Mutter Theresa hat so schön gesagt „Viele Tropfen füllen einen Krug“. Und genauso ist es mit dem Konsumverhalten. Viele Änderungen im Kleinen verändern unseren Alltag, verändern die Umwelt – zum Negativen, aber auch zum Positiven. Auf Tournee fahren wir konsequent Zug. Da hat seit Jahren ein Umdenken stattgefunden.
Seit ein paar Tagen haben wir eine neue Bundestagspräsidentin. Frauen als Dirigentinnen sind immer noch eine Rarität.
Mutter: Es gibt um die 30 Dirigentinnen, da hat sich in den vergangenen Jahren enorm viel getan. Wir sind auf einem guten Weg. Es freut mich, dass es in den nächsten zehn Jahren auch am Pult mehr Gerechtigkeit geben wird und wir Künstler „on equal levels“ sind. Die Rolle des Dirigenten ist leider noch sehr altmodisch und anti-weiblich besetzt.
Haben Sie eigentlich einen Lieblingskomponisten/in oder Dirigenten/in?
Mutter: Ich hatte ehrlich gesagt noch nie nur einen. Ich bin sehr offen und begeisterungsfähig – für nicht alles, aber sehr vieles und viele. Das kleine Werk Gran Cadenza der Koreanerin Unsuk Chin hat mir und meinen Kollegen, obwohl es nur acht Minuten lang ist, großes Kopfzerbrechen bereitet. Es ist eigentlich unspielbar, aber trotzdem: Die Liebe wächst auch manchmal an den Dingen, die einem besonders große Schwierigkeiten bereiten. Das verbindet wohl Athleten und Musiker. Love for struggle – im besten Sinne.