Kultur Höhepunkte und Flops auf der Documenta

Multi-Kulti, Fair-Trade und einige Klassiker bestimmen das Großereignis in Kassel.

Foto: Uwe Zucchi/dpa

Kassel. Alle fünf Jahre findet die Documenta als größte und wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst statt. Doch diesmal ist alles anders. Der künstlerische Leiter Adam Szymczyk verdoppelte die Schau, ließ sie in Athen starten und höhnte im Titel „Lernen von Athen“ über den Traditionsstandort Kassel. Er bekam gehörige Kritik nicht nur für den Titel, sondern auch für seine einseitigen politischen Äußerungen.

Wie kann ein aussichtsloses Wirtschaftssystem der Kunst helfen? Andererseits warf ihm der griechische Ex-Finanzminister Janis Varoufakis vor, die wenigen Ressourcen der kleinen Athener Kunstszene und der Kunsthochschule zu blockieren. Das sei wie die Übernahme von 14 griechischen Flughäfen durch die deutsche Firma Fraport. Die Exkursion nach Athen wird den gebürtigen Polen auch beim Kassensturz wie ein Fluch begleiten. Denn in Athen sind einige Ausstellungsorte nach Auskunft der Presseabteilung kostenfrei zugänglich. Partnerinstitutionen erheben zwar Eintrittspreise vor Ort, verrechnen sie jedoch mit den jeweiligen Betriebskosten. Die kaum zu lösende Aufgabe für Geschäftsführerin Annette Kulenkampff lautet, 18,5 Millionen Euro einzuspielen.

Szymczyk glaubt an die politische Kraft der Kunst und demonstriert dies auf dem Friedrichsplatz, indem Marta Minujin einen Parthenon der verbotenen Bücher aufbauen darf. Eine schöne Geste, aber eine bloße Fassade. Es kamen nämlich so wenige Bücher zusammen, dass die Inszenierung ein Gestänge mit einer bunten Kulisse als Vorderfront ist.

Bislang galt jede Documenta als jung. Diesmal ist keiner der 160 Teilnehmer unter 30. Viele Künstler sind betagt oder schon tot. Wer die Documenta als Entdeckungsreise zur Avantgarde betrachtet, sollte zu Hause bleiben.

Vieles wirkt lediglich moralisch gut. Nur dem Kurden Hiwa K. gelingt mit seinem Röhren-Quader ein eindrucksvolles Symbol. Auf der Flucht vor Saddam Husseins Truppen lebte er in einem dieser Rohrstapel und überträgt nun seine existenzielle Angst in ein sinniges Kunstwerk.

Wer gestandene Kunst sucht, findet sie im Fridericianum. Dort zeigt das Athener Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst (EMST) Teile seiner Sammlung. Dazu zählen die Kohlesäcke und Stahlplatten des kürzlich verstorbenen Jannis Kounellis (Jg. 1936). Vlassis Caniaris (1928-2011) präsentiert in seiner Installation gesichtslose Figuren in Alltagsklamotten, die sich stoisch um ein Hüpfspiel mit Arbeitsmarktparolen gruppieren, daneben stehen gebrauchte Koffer für die nächste Reise. Der Südafrikaner Kendell Geer hortet spitze Metallteile in Stahlregalen. Andrea Bowers erinnert mit „No Olvidado (Unvergessen)“ an Mexikaner, die beim Übertritt in die USA gestorben sind. Und im Eingangsbereich lauert ein monströser Panzer, den Andreas Angelidakis allerdings aus gemütlichen Sitzpolstern gestapelt hat.

Der Kunst nahestehend ist ein Gemälde von Stathis Logothetis, das in eine farbige Körperhülle übergeht. Costas Tsoclis (Jg. 1930) lockt mit einem sterbenden Fisch in der Rotunde und rammt recht effektvoll einen Eisenstab wie eine Harpune in die Video-Wand.

Die hohe Documenta-Halle erinnert an ein Multikulti-Museum. Von Beau Dick, dem kürzlich verstorbene Kwakwaka’wahw-Indianer, stammen Kugelfische mit breiten Lippen, ausgestreckter Zunge und dekorativ bemaltem Panzer oder eine weiße Maske mit Augenbrauen und Bärtchen. Schön bunt ist das, nicht so vergeistigt wie Werke aus dem alten Afrika. Folkloristischen Zauber erzeugen die Stickereien und Applikationen der Sámi-Künstlerin Britta Marakatt-Labba aus Schweden. Kaum von der Realität abgerückt sind die Wracks der Flüchtlingsboote, wie sie Guillermo Gallindo vor der griechischen Küste gesichtet hat. Ausgerechnet in diesem Potpourri erlebt die Schweizerin Miriam Cahn ihren großen Auftritt mit verängstigten und verstörten Wesen in leichten, wässrigen Farben. „Koennteichsein“ nennt sie ihre Gemälde nackter Menschen in kargen Landschaften.

Die Karlsaue ist fast leer gefegt. Es scheint, als dürfe die liebliche Natur nicht das Spiel mit all den Katastrophen stören. Der Park beherbergt lediglich den hölzernen Nachbau einer Mühle mit Zahnrädern und Metallschwengel. Antonio Vega Macotela aus Mexiko-Stadt nennt sie eine „Mühle des Blutes“, weil sie an eine Silbermine aus der spanischen Kolonialzeit erinnert. Immerhin eine perfekte Handwerksarbeit ist dies.

Nicht verpassen sollte man das Palais Bellevue. Hier blitzt kurzfristig wunderbare Kunst auf, etwa surreale Hausobjekte von Christos Papoulias. Aber was sollen die langweiligen Fotos von Strohobjekten?

Im Hessischen Landesmuseum macht der fließende, dunkelblaue Baumwollteppich als „Wasserfläche“ auf sich aufmerksam. Er soll die Weltsicht der Maori verkörpern. Sehr fotogen in der Nachbarschaft die mit Jutesäcken behängten Torwachen.

Ein Höhepunkt ist das Sepulkralmuseum, weil dessen ständige Sammlung über den Tod von keiner Documenta zu toppen ist. Gegenüber liegt der Neubau Grimmwelt, ein architektonisches Juwel. Auch hier sind die Märchen sehenswerter als die Texte zu Tom Seidmann-Freud, der Schwester des Psychoanalytikers.

Wer eine Rallye liebt, wird in der „Neue Neue Galerie“ (Alte Hauptpost) den berühmten Vorhang aus Rentierschädeln bewundern, mit dem das Volk der Sami gegen die norwegischen Gesetze protestiert, mit denen die Rentierherden der Ureinwohner reduziert werden sollen. Das Gießhaus mit der Dachkuppel ist ein gutes Beispiel ehemaliger Industriearchitektur. Weniger prickelnd sind die Videos im Innern. Die Glas-Pavillons an der Kurt-Schumacher-Straße, diese heruntergekommenen Pack- und Lagerhallen, erinnern an Trödelmärkte. Der gesamte Komplex aus dem Rose-Valland-Institut zur Restitutionskunst hat mit Kunst nun partout nichts zu tun, zumal Szymczyk den Nachlass von Hildebrand Gurlitt nicht erhalten hat. So bleibt vieles visuell und inhaltlich schwach. Dazu gehören „Real Nazis“ von Piotr Uklanski wie der Fair-Trade-Handels des Nigerianers Otobong Nkanga, der 45 000 schwarze Seifenstücke verkaufen will, um die Einnahmen an die Produzenten fließen zu lassen.