Ausstellung in London: Gerhard Richters Gesichter
Die British Portrait Gallery widmet ihm eine Ausstellung.
London. Hunderte Male am Tag stehen wir vor der gleichen Unmöglichkeit und können gar nicht anders: Jedes neue Gesicht, jede Gestalt will zwanghaft eingeschätzt, mit Bedeutung versehen werden. Oft trügt der Eindruck, nicht nur der erste. Bei aller Unschärfe klar und präzise lotet Gerhard Richter diesen Abstand zwischen Schein und Sein aus. Ab heute sind die wichtigsten und rührendsten Porträts des deutschen Malers in London zu sehen.
Nicht viele Ausstellungen schaffen es, Kunstwerke so freizulegen, ihre Hintergründe so zu öffnen, wie es der National Portrait Gallery bei Richter gelingt. In seinem großen und extrem variantenreichen Oeuvre und bei mehreren Parallel-Ausstellungen in Europa dürfte diese Porträtsammlung der klarste Leitfaden zu seinem Lebensthema sein.
Immer wieder kreist Richter um den Bruch zwischen scheinbarer und tatsächlicher Realität, zwischen Anschein und Wirklichkeit, zwei Erfahrungen, die vielleicht verbunden, aber selten kongruent sind. Deutlich wird das in dem Schwarz-Weiß-Porträt "Tante Marianne", das Richter nach der Fotovorlage aus dem Familienalbum gemalt hat.
Es zeigt ihn als Kleinkind auf dem Schoß eines engelhaften Mädchens. Nichts in dieser madonnenhaften, nostalgischen Szene lässt die Wirklichkeit erahnen: Richters "Tante Marianne" litt an Schizophrenie und wurde 1945 von den Nazis umgebracht. Auch der harmlos anmutende "Herr Heyde", ein Neurologe, dessen Porträt im Nachbarrraum hängt, wirkt nicht verdächtig - dabei gehörte Richters Tante Marianne zu den Mordopfern des Euthanasie-Verfechters Heyde.
Richters Gesichter geben wenig preis und verprellen den Betrachter ein ums andere Mal so lehrreich wie schmerzvoll: Ihr wahres Ich, ihre Geschichte verstecken sie hinter einer dünnen Verblendung, einer Fassade, der man nur allzu schnell Glauben und Vertrauen schenken mag.
Zum ersten Mal sind in London auch Porträts ausgestellt, die Richter von seinen Ehefrauen und Kindern gemalt hat, darunter sein jüngstes Werk "Ella" (2007). Bei allen Kontrasten zu seinen übrigen Werken - die Farbigkeit, die Abkehr von anonymen Figuren - greift er auch hier wieder auf sein Lebensthema zurück: Trotz ihrer Nähe und Direktheit bleiben die Gesichter unzugänglich. Ihr gerader Blick verspricht eine Offenheit, die nicht eingelöst wird.
Das universelle Dilemma, Sinn aus der Welt machen zu wollen bei gleichzeitiger Unfähigkeit, irgendetwas mit Sicherheit zu erkennen, löst Richter nicht auf. Wer hier auf Tipps und Trost hofft, wird enttäuscht. Schlimmer noch: Das letzte Bild ist gar keines, sondern ein schlichter, großer Spiegel, in dem der Ausstellungsgast sein eigenes "Porträt" sieht. Eine feine ironische Pointe zum Schluss, bei der sich jeder selbst überlegen mag, was an seinem Spiegelbild überwiegt: Authentizität oder Image?
National Portrait Gallery, St. Martin’s Place, fr. Eintritt, bis 31. Mai, täglich 10-18, do/fr 10-21 Uhr, am 3.3. geschlossen