Eine documenta zum Schauen, Staunen und Grübeln
Kassel (dpa) - Die documenta gilt als weltweit wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, aber eines ihrer Schlüsselwerke ist 4000 Jahre alt. Es sind die Baktrischen Prinzessinnen, die an besonders prominenter Stelle im „Brain“ der Riesenausstellung platziert sind.
Dort, in der Rotunde des Fridericianums, sollen alle Stränge der documenta (13) innerhalb und außerhalb Kassels zusammenlaufen. Ihr Alter ist den Prinzessinnen nicht anzusehen; in ihrer Schlichtheit wirken sie geradezu zeitgenössisch. Und wie viele heutige Skulpturen sind sie aus verschiedensten Materialien zusammengesetzt. Aus Bruchstücken etwas Neues schaffen - das ist ein zentrales Thema dieser 13. „Weltkunstausstellung“, die am Samstag von Bundespräsident Joachim Gauck offiziell eröffnet wird. Erwartet werden in den 100 Tagen der Schau (bis 16. September) rund 750 000 Besucher.
Schon die Vorstellung des Programms war fast eine Performance: Eine schwarzgekleidete Künstlerin kaute am Mittwoch vor einem Mikrofon ihre Fingernägel ab, dass es nur so knackte in den Ohren. Dann legte die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev los. „Die documenta wird von einer ganzheitlichen Vision angetrieben“, sagte sie. Dabei dehnt die Schau ihre Grenzen aus wie nie. Fast 300 Namen - von Abdul bis Zuse - stehen auf der Teilnehmerliste, aber beileibe nicht alle sind Künstler.
Christov-Bakargiev hat auch Wissenschaftler wie Biologen oder Physiker eingeladen: „Die Grenze zwischen dem, was Kunst ist und was nicht, wird unwichtiger.“ Was diese Teilnehmer ausstellten, „mag Kunst sein oder nicht“. Nach ihren Worten geht es um „Zusammenbruch und Wiederaufbau“. Kaum ein Ort könnte dafür geeigneter sein als das kriegszerstörte Kassel. Die Schau wurde auf viele Orte in Stadt und Umgebung ausgeweitet - 31 Schauplätze nennt der über 500 Seiten starke „Begleitband“, darunter viele alltägliche Orte wie ein Kino, ein Bahnhof oder ein altes Kloster mit wechselvoller Geschichte. „Es gibt viele Plätze, die es in Kassel zu entdecken gibt“, meint Christov-Bakargiev. „Wenn man gräbt, findet man Geschichten.“
Nicht nur in Kassel hat die Amerikanerin gegraben, sondern auch in Kabul und Kairo und diese Städte - ebenso wie einen Nationalpark in Kanada - zum documenta-Standort erklärt. Überall erzählt die documenta spannende, teils unglaubliche Geschichten. Zum Beispiel von Mohammad Yusuf Asefi, der in Kabul 80 Gemälde rettete, indem er heimlich die darauf dargestellten Menschen und Tiere mit Wasserfarbe übermalte, weil die Taliban sie sonst zerstört hätten. Später konnte er die Farbe einfach wieder abwaschen.
Der Besucher macht auch Bekanntschaft mit dem „Apfelpfarrer“ Korbinian Aigner (1885-1966). Dieser mutige katholische Dorfpriester griff die Nazis in seinen Predigten an und kam dafür ins KZ Dachau. Ausgerechnet dort schuf er neues Leben, indem er vier neue Apfelsorten züchtete, die er KZ1, KZ2, KZ3 und KZ4 taufte, heute als Korbiniansapfel bekannt. Wie ein moderner Konzeptkünstler zeichnete er diese Äpfel 50 Jahre lang immer wieder ab - in Kassel hängt jetzt ein riesiger Raum damit voll, was einen unvermutet großartigen Eindruck hinterlässt. Dazu wurde in der Karlsaue ein kleiner Korbiniansapfelbaum gepflanzt - als lebendes Kunstwerk.
Lebendig ist auch der benachbarte Schmetterlingsgarten: Die sich verpuppenden Falter sind für Christov-Bakargiev ebenfalls eine Metapher der Wiederherstellung. Die Schöpferin dieses Gartens, Kristina Buch aus Düsseldorf, ist sowohl Biologin als auch Theologin und steht damit für den allumfassenden Ansatz der documenta-Chefin. Die Natur ist in dieser Kunstausstellung überall präsent: Der chinesische Künstler Song Dong lässt einen Müllberg mit Pflanzen überwuchern, der Franzose Pierre Huyghe legt eine Kompostierungsanlage an - auch das ein Kunstwerk. Zu den wenigen bekannten Namen zählt der südafrikanische Maler und Filmkünstler William Kentridge.
Nicht immer wird man die Interpretationen der documenta-Chefin nachvollziehen können. Wenn sie etwa schreibt, Bilder der in Hitlers Badewanne sitzenden Fotografin Lee Miller (1907-1977) seien möglicherweise eine „feministische Anklage“, ein Versuch, die Menschheit von ihren Sünden reinzuwaschen, dann wird dem nicht jeder folgen wollen. Miller, die im April 1945 als Kriegsberichterstatterin mit den amerikanischen Truppen in München eingezogen war, wohnte einige Tage in Hitlers Privatwohnung am Prinzregentenplatz und badete dort am Tag seines Selbstmords in der Führer-Wanne. Die documenta zeigt auch einige Mitbringsel Millers aus der Wohnung des Diktators, darunter ein Handtuch mit den Initialen A.H. und eine Puderdose Eva Brauns.
Wer in Kunstausstellungen nicht gerne nachliest, sondern die Werke einfach auf sich wirken lassen will, kommt aber auch auf seine Kosten. Eine Installation, die den Betrachter sofort gefangen nimmt, gelingt zum Beispiel dem in Berlin lebenden Franzosen Kader Attia. Er hat in einem raffiniert ausgeleuchteten Raum entstellte Holzköpfe aufgebaut. Auch wenn man nichts darüber weiß, denkt man unwillkürlich an Kolonialverbrechen in Afrika. Zusammen mit Büchern und Fotografien lässt das Werk ein wahres Assoziationsgewitter im Kopf losbrechen - so etwas vermag fast nur die Kunst.
So lautet das Fazit nach dem ersten Rundgang: Eine documenta zum Schauen, Staunen und Grübeln. Eine documenta zum Weiterempfehlen.