Immendorff benutzte seine Assistenten als lebende Pinsel
Der Kunsthistoriker Siegfried Gohr veröffentlicht das Werkverzeichnis zum Altersschaffen von Jörg Immendorff.
Düsseldorf. Ausgerechnet den letzten Band des Werkverzeichnisses von Jörg Immendorff bringt der Kunsthistoriker Siegfried Gohr als erstes heraus. Er betrifft die Zeit von 1999 bis 2007, die Phase also vom Ausbruch der Nervenkrankheit ALS bis zum Tode des Künstlers. Was niemand bisher für möglich gehalten hat, wird nun zwischen zwei Buchdeckeln festgehalten: Es ist das Werk eines Besessenen, der mitten in seinem Todeskampf unglaublich interessante Bilderfindungen schuf.
Am Ende seines Lebens gab er eine ergreifende Reflexion über den Tod, über die nicht mehr vorhandene Schaffenskraft, aber auch über extreme politische Themen wie Irak und Israel. Die Botschaft dieses Mannes aus Düsseldorf: Wie schrecklich ist es, dass die Menschen, der Staat, die Religionen sich selbst ununterbrochen bekämpfen und vernichten.
Aber Immendorff steht auch zeit seines Lebens für das, was Gohr eine „gespaltenen Produktion“ nennt. Denn neben der gut dokumentierten Hauptproduktion gibt es eine „Schattenproduktion“, die bis auf wenige Ausnahmen nicht von seiner Hand stammt.
Ursache für diesen schwarzen Markt ist nicht nur die Krankheit, sondern auch der Kunsthandel. Er geriet nach 1990 weltweit in eine Absatzkrise, von der auch Immendorffs Bilder betroffen waren. Deshalb produzierte der Künstler „Variationen“, wie Gohr es nennt, von eigener Hand oder durch Mitarbeiter. Damit bediente er den „inoffiziellen Markt“. Konkret heißt das, er vertrieb Werke direkt aus dem Atelier heraus, unter Umgehung der Galerien. Bisweilen wurden diesen Bildern Zertifikate beigegeben, deren Echtheit umstritten ist. Jedenfalls gab es dafür keine Kopien. Gohr vermutet, dass sogar Blanko-Exemplare und Farbkopien im Umlauf waren.
Erst in Band Zwei will der Wissenschaftler klären, welche Personen Zertifikate ausstellen durften, welche Signaturen eindeutig waren, wie viele Variationen die Helfer produzierten. Eines steht allerdings schon jetzt fest: Die 1398 in Band Drei aufgenommenen Werke aus dem Alterswerk sind echt. Was auf den 464 Buchseiten nicht erscheint, gilt für Gohr als „nicht authentisch.“
Das Buch ist eine faszinierende Fleißarbeit, denn Immendorff musste angesichts seiner Lähmungserscheinungen die Herstellung seiner Produktion auf die Werkstatthelfer übertragen. Die Assistenten kopierten alte Motive oder Teile davon mithilfe eines Projektors. Der Künstler analysierte jeden Arbeitsschritt und verteilte die Aufgaben auf Spezialisten.
Einige Handwerker waren für Unter- und Hintergründe, für organhafte Formen, für die Marmorierung und für die Übertragung fotografischer Vorlagen in die Malerei zuständig. Er selbst kontrollierte minuziös, aber benutzt die Assis auch als „lebende Pinsel“, so Gohr. Zugleich besaß er eine unglaublich suggestive Sprachfähigkeit, denn nur so konnte aus dem Puzzle am Ende ein großes Alterswerk werden.
In Zitaten sorgen Assis für die Wiederbelebung grafischer Künste. Das Buch ist jedoch nicht nur für Immendorff-Spezialisten wertvoll. Es gibt zugleich eine Kunstgeschichte der Grafik von der Renaissance über den Barock bis zur Schule von Fontainebleu. Immendorff hat nicht nur unendlich viele Künstler zitiert, sondern er sorgte auch für ihre Wiederbelebung in völlig neuen Zusammenhängen, wobei die Inhalte aus der Bibel, aus Dante-Illustrationen, ja sogar aus der Gebärdensprache der Börsianer stammen.