Hinter Gittern Kunst aus Guantánamo in einer Schau in New York
New York (dpa) - Tupfer in Blau, Rot, Grün, Gelb. Sie kreisen, werden enger, verbinden sich zu einem Abwärtsstrudel. Die Pünktchen erzeugen ein Schwindelgefühl - das Aquarell heißt „Vertigo auf Guantánamo“.
Gemalt hat es Ammar al Baluchi, einer der mutmaßlichen Drahtzieher der Terroranschläge vom 11. September 2001, der seit mehr als zehn Jahren in dem Gefangenenlager auf Kuba einsitzt.
Bis Ende Januar sind seine Kunstwerke und diejenigen weiterer Guantánamo-Insassen in New York zu sehen. Sie bieten Einblick in die Gedankenwelt jener, die die Regierung der USA als Terroristen und Massenmörder beschuldigt.
Aber was sagt ein Bild über einen Gefangenen, der es malt? Was davon ist Betrachtung der Außenwelt, was Spiegel zur Seele einer oft schwerkriminellen Vergangenheit? Verkürzt die Beschäftigung mit Kunst Häftlingen lediglich ihre Wartezeit bis zum Ende ihrer Strafe, oder hilft ihnen die Kunst, Vergangenes zu verarbeiten?
Für Doren Walker mögen diese Fragen Nebensache gewesen sein. Seine selbst gemachten Grußkarten - Bleistiftzeichnungen von Marilyn Monroe, Motorrädern oder Superhelden - tauschte er während seiner Jahre im Gefängnis in Iowa gegen Hygieneartikel, Briefmarken oder Limonade. „Sie ist ein großer Teil meines Lebens“, sagt der mittlerweile entlassene Walker laut einem Bericht der Zeitung „The Gazette“, die über seine Grußkarten-Ausstellung berichtet. Der „Guardian“ zeigte 2013 Fotos, die zum Tode verurteilte Insassen in Zusammenarbeit mit Kunstprofessoren aus der Gegend gemacht hatten.
Ob Häftlinge überhaupt zur Kamera oder zum Pinsel greifen oder sich gar an Modellbau oder Skulpturen versuchen dürfen, hängt von Bestimmungen der jeweiligen Haftanstalt und dem Bundesstaat ab. Der unabhängigen Prison Policy Initiative zufolge sitzen derzeit rund 2,3 Millionen Menschen in mehr als 5000 Gefängnissen in den USA ein, die auf Bundesebene, den Bundesstaaten oder örtlichen Gemeinden betrieben werden. Laut einer Studie des Center on Juvenile and Criminal Justice kann Kunst dabei das Selbstbewusstsein der Insassen stärken, sie kann ihnen helfen, ihre Zeit besser einzuteilen und ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, sowie ihr Interesse an Bildungsprogrammen steigern.
Wie eine kleine Sensation wirkte es, als im New Yorker John Jay College im Oktober plötzlich 36 Arbeiten von acht Männern ausgestellt waren, die in Guantánamo inhaftiert waren oder sind. Das höchst umstrittene Lager ist für seine harten Bedingungen bekannt - Ammar al Baluchi wird einem UN-Experten zufolge bis heute gefoltert, obwohl die US-Regierung Foltermethoden in dem Lager vor fast zehn Jahren offiziell abschaffte. Dass Häftlinge hier Aquarelle pinseln oder Modellboote bauen dürfen, wirkte ebenso befremdlich wie die Tatsache, dass sie „Harry Potter“-Bücher und Disney-Filme ausleihen können.
Selbst im Umgang mit mutmaßlichen Terroristen hat auch das US-Militär offenbar erkannt, dass künstlerische Arbeit einen Alltag hinter Gittern positiv beeinflussen kann. „Ode an die See: Kunst aus Guantánamo Bay“ heißt die Schau, die etwas versteckt im fünften Stock der Hochschule im Westen Manhattans liegt. Rund 500 Besucher hätten die Ausstellung bereits besucht und mehr als 20 000 hätten sich zur dazugehörigen Website geklickt, erklärt eine Sprecherin.
Die Arbeiten sind beeindruckend angesichts der Tatsache, dass eine Gefängniszelle auf Guantánamo etwa so inspirierend sein dürfte wie ein stillgelegter Fußgängertunnel bei Nacht. Sie drehen sich fast ausnahmslos um die See und die Seefahrt. „Einige dieser Zeichnungen waren eine Mischung aus Hoffnung und Schmerz. Die See bedeutet Freiheit, die niemand kontrollieren kann, Freiheit für alle“, schrieb Mansoor Adayfi, der 2016 aus Guantánamo entlassen wurde, in einem Gastbeitrag für die „New York Times“. Und: „Menschen werden alles tun, um ihre Gedanken der Hölle entkommen zu lassen.“
Aus Sicht ihrer Aufseher sind Häftlinge vor allem eine Nummer im System. Persönliche Gegenstände und selbst verfasste Texte oder selbst gemalte Bilder geben ihnen ein Stück ihrer Identität zurück. „Sie waren ein Beweis, dass ich existiere“, schreibt Mohamedou Ould Slahi in der „Washington Post“ über seine mittlerweile als „Guantánamo-Tagebuch“ bekannten Aufzeichnungen sowie Geschenke seiner Familie. Beim Umzug in eine andere Zelle musste er sie hinter sich lassen. Zurückbekommen hat er diese „Komfort-Gegenstände“, wie das US-Militär sie bezeichnet, bis heute nicht.
Was die Kunst aus Guantánamo angeht, dürfte es die vorerst letzte Schau dieser Art gewesen sein. Im Zuge der Ausstellung sei der Transfer von Kunstwerken verboten worden, teilt Pentagonsprecher Ben Sakrisson der Deutschen Presse-Agentur mit. Solche Arbeiten gelten künftig als Regierungseigentum der Vereinigten Staaten von Amerika.