K 20 erinnert an Charlotte Posenenske Vierkantrohre für den Baukasten der Kunst

DÜSSELDORF · 1964 erklärte Joseph Beuys in einer Live-Sendung des ZDF, das Schweigen von Marcel Duchamp werde überbewertet. Für Beuys galt „Reden und Handeln statt Schweigen und Nicht-Tun“. Wer in der Düsseldorfer Kunstsammlung (K 20) die steile Treppe zum Erweiterungstrakt ins erste Obergeschoss emporsteigt, hört aus der Wand noch heute seine Laute „öö öö öö“, die er auf die Rede von Karl Bobek zum Thema „Forum und Sitte“ in der Akademie-Aula folgen ließ.

Charlotte Posenenske: Work in Progress, Installationsansicht im K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

Die Kunstsammlung hält es derzeit allerdings weniger mit Beuys (der kommt erst im Beuys-Jahr 2021 an die Reihe), sondern eher mit den Aussteigern. Parallel zu Lee Lozano und ihre schweigenden Mitstreiterinnen in K 21 wird Charlotte Posenenske in K 20 mit ihren Baukastenformen groß ausgebreitet. Die Künstlerin (1930 – 1985) hörte auf dem Höhepunkt ihres kurzen Ruhms einfach auf mit der Kunst.

Mag die Welt aus den Fugen geraten, die Kunstsammlung bleibt kunsthistorisch tätig und feiert die Frau, die zeitgleich zur amerikanischen Minimal Art und Konzeptkunst minimalistisch arbeitete. Wenn man Posenenskes Anfänge in der Auseinandersetzung mit der Malerei beiseite schiebt, hat sie lediglich von Ende 1966 bis Anfang 1968 künstlerische Pioniertaten vollbracht. Im Mai 1968 erklärte sie jedoch: „Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Kunst nichts zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.“ Im Alter von 38 Jahren stieg sie aus und studierte Soziologie.

Die aktuelle Situation ähnelt der der 68er Jahre. Heute sind es Coronavirus und Flüchtlinge, Donald Trump und Brexit, die inflationäre Überhitzung und die drohende Arbeitslosigkeit, die die Kunst kleinlaut erscheinen lassen. Wahrscheinlich hätte sich Charlotte Posenenske selbst gewundert, wie sie derzeit gefeiert wird. Der weit berühmtere Star Pablo Picasso muss sich in K20 mit viel zu eng bemessenen Kojen begnügen, um seine Bilder aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu präsentieren, damit die weibliche Position der Moderne in der großen, offenen Klee-Halle wie eine Ikone vorgeführt werden kann. Museumschefin Susanne Gaensheimer will es so, schließlich wurde die Ausstellung von der New Yorker Dia Art Foundation organisiert und bereits in Barcelona gezeigt, bevor sie nach Düsseldorf in Luxemburg zu sehen sein wird.

Charlotte Posenenske reiht sich mit ihrem Werk in die Umbrüche der 1960er Jahre ein. Auch Imi Knoebel, Blinky Palermo und Hanne Darboven zweifelten am Bild und suchten nach neuen, konkreten Formen der Kunst. Die Zero-Leute griffen zu Feuer, Licht und Hammer, Franz Erhard Walther zu Stoffobjekten und Carl Andree zu begehbaren Metallplatten. Posenenske aber schuf Module aus Pappkarton. Die Kuratorin Isabelle Malz hatte ihre liebe Not, um aus unzähligen Wellpappen und Kunststoffschrauben jene Riesenskulptur hervorzuzaubern, die jetzt die große Halle bestimmt. Ende 1967 hatte die Bildhauerin damit die schmale Handtuch-Galerie von Konrad Fischer fast aus den Angeln gehoben und die Blätter der Darboven an die Ränder gedrängt. Die aktuelle Arbeit ist nachgebaut, in unüblichem Material, aber im klassischen Bogen, der sich vom Boden abhebt und zum Boden zurück neigt.

Posenenske wurde als Liselotte Henriette Mayer in Wiesbaden geboren. Sie war zehn Jahre alt, als ihr jüdischer Vater 1940 Selbstmord beging, und sie verbrachte die letzten Monate der Nazi-Zeit in einem Versteck, um zu überleben. In der Kunst mied sie diese traumatischen Erinnerungen und konstruierte sich ihre eigene Zukunft. Sie studierte in Stuttgart bei Willi Baumeister die Abstraktion als universelle Ausdrucksweise und startete als Bühnen- und Kostümbildnerin in Lübeck und Darmstadt. 1955 heiratete sie ihren ersten Mann, den Architekten Paul Friedrich Posenenske, und schuf Spachtelarbeiten in Öl und Kaseinfarbe im Stil des Informel, die heute in internationalen Museen hängen. Über Rasterbilder aus Punkten, die sich mit Zero-Kunst vergleichen lassen, kam sie zu den spannenderen „plastischen Bildern“ (ab 1965): Metallobjekte, in Standardgrundfarben bemalt und besprüht. Sie hoben sich in Faltungen und Wellen von der Wand oder dem Boden ab. Ihre Herstellung war handwerklich perfekt. Zwei halbzylindrische Formen etwa wurden von hinten verbolzt und so bemalt, dass der Eindruck brechender Wellen entsteht.

Die letzten Werke von 1967 sind keine Unikate mehr, sondern nach schematischen Zeichnungen industriell gefertigte Serienstücke. Sie bestehen aus galvanisiertem Stahlblech oder aus Wellpappe und können vom Benutzer zu beliebig erweiterbaren Mustern angeordnet werden. Sie sind geometrisch streng, unterschiedlich in der Größe, einfach reproduzierbar und erinnern oft an Lüftungskanäle. Die kreativen Endbenutzer oder „Konsumenten“ dürfen die Rekonstruktion einer Drehflügeltür noch heute hin und herschieben. Eine Do-it-yourself-Methode, wie sie der Werbefachmann und Künstler Karl Gerstner in Düsseldorf in seinen Farbplättchen in Umlauf brachte.

Auch Paul Maenz, ein Freund Posenenskes, war zunächst Werbemann. Er eröffnete mit dem Künstler Peter Roehr in Frankfurt einen Headshop, mit politischen Manifesten, Drogenutensilien, Anti-Nazi-Spray und Che Guevara-Postern. Die Künstlerin beteiligte sich an einem Bild der Außenfassade, wie Karl Marx von einer Cola-Flasche durchschossen wird. Gleichzeitig entwarf sie Wellpappmöbel für die Inneneinrichtung. Sie hantierte aber auch mit ihren Objekten auf einer Verkehrsinsel in Offenbach, wie Gerry Schums  Archivfilm für den Hessischen Rundfunk zeigt. Für den Kunstmarkt taugte all dies nichts. Ihr Soziologie-Studium war also konsequent. Später bestimmte sie, ihre Serien unlimitiert zu produzieren und nach eigenem Geschmack zusammenzubauen. Seitdem genügt die Idee als Original. Das gilt für die meisten Ausstellungsstücke am Grabbeplatz.