Zeche Zollverein Essen Porträts von Holocaust-Überlebenden - Die Rückeroberung der Würde

Essen · Man wollte ihnen alles nehmen, was Menschsein ausmacht. Sie sind die Zeugen des Grauens. Der Fotograf Martin Schoeller hat 75 Holocaust-Überlebende porträtiert.

Der Fotograf Martin Schoeller reiste im vergangenen Mai für zehn Tage nach Israel, um die Aufnahmen der Überlebenden machen zu können.

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Man sagt das so leicht: „Das steht ihm ins Gesicht geschrieben.“ Würde man es auch wagen, diesen Satz den 75 Porträtierten zu sagen, wenn man ihnen gegenüber stünde: dass sich an ihren Gesichtszügen die Abgründe der Geschichte ablesen lassen, das Grauen des Holocaust? Oder stehen die brillanten Aufnahmen des in New York lebenden deutschen Fotografen Martin Schoeller nicht vielmehr für einen zähen Triumph? Die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten hat diesen Menschen alles nehmen wollen, was sie ausmacht. Und nun blicken sie mit der ganzen Autorität ihres hohen Alters in die Kamera – und erzählen damit auch von der Rückeroberung ihrer Würde.

Schoeller macht das seit Jahren so: immer dasselbe Licht, immer dieselbe Kamera, immer dieselbe Augenhöhe. „Close Ups“ nennt er seine Nahaufnahmen der Berühmten und der Namenlosen dieser Welt. Gleiche Bedingungen für alle, wenn man so will – keine Umgebung und keine Inszenierung soll sie voneinander unterscheiden, sondern nur ihr Gesicht. Für Schoeller ist das ein humanitärer, demokratischer Anspruch an seine Fotografie. Diese Haltung verschafft ihm Aufträge führender internationaler Magazine.

Eines von 75 Porträts, die bis zum 26. April in der Zeche Zollverein in Essen zu sehen sind: Hannah Goslar Pick. Der Kontakt zu den Holocaust-Überlebenden erfolgte über die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Foto: Martin Schoeller

Die Idee für das Projekt stammt von Kai Diekmann

Aber den Auftrag, den er auf Vermittlung von Kai Diekmann annahm, dem ehemaligen „Bild“-Chefredakteur und Vorsitzenden des Freundeskreises von Yad Vashem in Deutschland, bezeichnet er im Rückblick als „das emotionalste Projekt meines bisherigen Lebens. Es hat mich für immer verändert.“ Im vergangenen Mai reiste der 51-Jährige für zehn Tage nach Israel, um 75 Überlebende des Holocaust zu fotografieren. Die Auswahl hatte die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übernommen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie heute in Israel leben und eine enge Beziehung zu der Gedenkstätte pflegen.

Die Wirkung der überlebensgroßen Porträts an den Wänden der ehemaligen Kokerei-Mischanlage auf dem Gelände des Essener UN-Welterbes Zollverein lässt sich mit Worten nur ungenügend beschreiben. Das Ruhrgebiet war einst eine der Waffenschmieden der NS-Diktatur. Auch Spuren der Massenermordung in den Gaskammern führen bis in die chemische Industrie des Reviers. Und nun wird im Herzstück der einstigen Ruhrgebietsidentität dieser künstlerische Kommentar zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gezeigt. Wärmelampen nehmen der schroffen und meterhohen Industrie-Ästhetik das Fröstelnde, eine geniale warme Ausleuchtung befreit die Bilder vor dem Hintergrund der dunklen, rauen, unverputzten Hallenwände von jeder Opferanmutung. Es sind ungeachtet der einzelnen Schicksale Fotografien menschlicher Stärke.

Eines von 75 Porträts, die bis zum 26. April in der Zeche Zollverein in Essen zu sehen sind: Marta Wise. Der Kontakt zu den Holocaust-Überlebenden erfolgte über die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Foto: Martin Schoeller

Knappe biografische Angaben und ein Zitat

Die biografischen Angaben zu den einzelnen Personen sind denkbar knapp gehalten. „Während des Holocaust: Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau“; „Während des Holocaust: Durchgangslager Weterbork, jüdisches Waisenhaus“; „Während des Holocaust: Ghetto Kamien Koszyrski, durch Christen im Wald versteckt“. Dazu ein Zitat des jeweiligen Porträtierten: „Ich wünsche den kommenden Generationen Seelenstärke. ich hoffe, dass so niederschmetternde Ereignisse, wie ich sie während des Holocaust erlebt habe, nie wieder geschehen“, steht unter dem Foto von Shela Altaraz, die 1934 im heutigen Nordmazedonien geboren wurde.

Eine Hoffnung, die sie mit den Ausstellungsmachern teilt. Deren Arbeit wirkt wie ein großes Ausrufezeichen und Fragezeichen zugleich. Ausrufezeichen, weil sich Geschichte durch nichts so plausibel und berührend vermitteln lässt wie durch Zeitzeugen. Aber der Zeitkorridor, in dem die Zeugen der Shoah noch verfügbar sind, wird schmaler und schmaler – auch das war eine Motivation für das Projekt „Survivors – Faces of Life after the Holocaust“. Daraus erwächst zugleich auch das Fragezeichen: „Wie Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen aussehen kann“, sagt Kai Diekmann, „ist für mich eine offene Frage.“ Dass sie aber irgendwie weitergehen muss, allen vermeintlichen Überdrüssigkeitsberichten und dem rechtsextremen Propagandagerede von „Erinnerungsdiktatur“ und „Schuldkult“ zum Trotz, das ist sicher. Bernd Tönjes, Vorstandsvorsitzender der RAG-Stiftung als dem Geldgeber des Projekts, sagt das so: „Unsere Aufgabe ist nicht nur die Finanzierung der Ewigkeitsaufgaben des Bergbaus. Es ist auch eine Ewigkeitsaufgabe, dieses Gedenken zu bewahren.“

Eines von 75 Porträts, die bis zum 26. April in der Zeche Zollverein in Essen zu sehen sind: Moshe Ha-Elion. Der Kontakt zu den Holocaust-Überlebenden erfolgte über die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Foto: Martin Schoeller

In diesem Fall besteht die Bewahrung vor allem in der Dokumentation des Antlitzes. Eigentlich sollten während der Aufnahmen nur ein oder zwei Interviews für ein begleitendes Filmprojekt geführt werden. Es sind dann doch mehr geworden, weil viele der Überlebenden während der Sitzungen zu erzählen begannen. Aber die Aussage Diekmanns, die Chance der Ausstellung liege darin, „dass ich mich mehr interessiere und die Geschichte dahinter erfahren will“, ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Die Fotos sind schon für sich so stark und erzählen so viel, wenn man sie denn nur lesen will.

Bis zum 26. April sind die 75 Porträts noch in Essen zu sehen. Anschließend werden sie ihre Reise um die Welt antreten. Toronto und Maastricht sind erste Stationen noch in diesem Jahr. „Wir schauen nun – all die Jahre nach dem großen Verbrechen – in die Gesichter von Menschen, die nicht verschlungen worden sind von der Tötungsmaschinerie“, schreibt Altbundespräsident Joachim Gauck in seinem Vorwort für das Buch zur Ausstellung. „Wie gern hätten wir auch das alte Gesicht von Anne Frank gesehen, das uralte von Edith Stein!“

Eines von 75 Porträts, die bis zum 26. April in der Zeche Zollverein in Essen zu sehen sind: Naftali Furst. Der Kontakt zu den Holocaust-Überlebenden erfolgte über die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Foto: Martin Schoeller

Haus der Sammlungen entsteht in Jerusalem

In Yad Vashem, diesem großen Gedächtnis der Shoah, wird derweil schon an einem neuen Ort der Erinnerung gebaut. Mit finanzieller Unterstützung des deutschen Freundeskreises, Geldgebern der Industrie, des Bundesligisten Borussia Dortmund und auch der Bundesregierung entsteht dort das „Haus der Sammlungen“. Es soll den mehr als 250 000 Gegenständen, die der Gedenkstätte mittlerweile aus aller Welt überlassen wurden, einen sicheren Ort der Aufbewahrung bieten.

Der Großteil des Gebäudes entsteht unterirdisch, fünf Stockwerke ins Erdreich hinein – dort, wo man gemeinhin Schätze verbirgt. In Yad Vashem ist es der Schatz der Erinnerung an die Opfer.