NRW Musiker nehmen Publikum mit auf eine Zeitreise
Düsseldorf · Die Band Tocotronic spielte bei der „Summer Edition“ des New-Fall-Festivals ein Konzert wie eine ewig währende Zugabe.
Es ist die vielleicht kurioseste Szene des Abends, als Dirk von Lowtzow nach gut einer halben Stunde Konzert den Song „Nach Bahrenfeld im Bus“ ankündigt, da man ja gerade ohnehin so bequem beisammensitze.
Der Sänger der Band Tocotronic, die an diesem lauwarmen Mittwochabend auf der „Summer Edition“ des New-Fall-Festivals gastiert, fremdelt zunächst mit dem Bild, das sich vor seinen Augen abzeichnet. Zwischen farbenfrohen Blumenbeeten, Avocado-Schnittchen und frappierten Weißweinflaschen liegt der nahezu ausverkaufte Ehrenhof in Liegestühlen vor einer kleinen überdachten Festivalbühne. Darauf spielen Tocotronic ihr erstes Konzert seit nahezu zwei Jahren. Und auch das über lange Zeit verhaltene Publikum versichert sich vorerst dieser altbekannten, in die Ferne gerückten Situation. Bekannte Gesichter winken über Sitzreihen hinweg einander zu, trauen sich nur allmählich, mitzusingen und lösen langsam die übereinandergeschlagenen Beine, um im Takt zu wippen.
Obgleich von Lowtzow sonst Selbstläufer wie schweißtreibende Hallenkonzerte mit einem in Moshpits tanzenden Publikum gewohnt ist, weiß der Frontmann mit der zu Anfang doch gehemmten Stimmung umzugehen und kann durch das scherzhafte Siezen der Festivalbesucher, pointiert selbstironische Ankündigungen des eigenen Katalogs und das Ausbreiten vermeintlicher Unzulänglichkeiten beim Stimmen des Saiteninstruments zusehends die Atmosphäre lockern.
Es scheint in dieser Situation denn auch zu helfen, dass Tocotronic mittlerweile eine gefestigte Band ist, deren eingeübte Konstanten Hörer und Fan gleichermaßen das Gefühl des Nach-Hause-Kommens vermitteln. Und so läuft die Band traditionell zu orchestralen Klängen des Dirigenten Seiji Ozawa und des Boston Symphony Orchestra ein, positioniert sich auf der Bühne zwischen einer Auswahl an Plüschtieren und verlässt sie nach knapp zwei Stunden vor dem Hintergrund aufheulender Gitarren.
Tocotronic spielen Stücke
aus ihren ersten vier Alben
Lediglich eine Ausnahme gibt es. Denn das Programm an diesem Abend ist ein anderes als gewöhnlich. Es dürfte auch für das Tour-erprobte Quartett eine Besonderheit darstellen. Auf der ersten Hälfte ihrer aktuellen Tour, deren Auftakt das Gastspiel in Düsseldorf darstellt, spielen Tocotronic eine Titelauswahl ihrer ersten vier Alben, die zwischen 1995 und 1999 erschienen und in Hamburg aufgenommen wurden. Später veröffentlichte Alben, die allesamt in Berlin entstanden, finden in der zweiten Hälfte der Tour Berücksichtigung.
Anlass dieses zweiteiligen Liveprogramms ist eine groß angelegte Best-of-Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 mit dem Titel „Sag alles ab“. Am Mittwochabend nimmt Tocotronic das Publikum mit auf eine Zeitreise in die 1990er-Jahre, den „Hamburg Years“. Für große Teile des Publikums ist das an diesem Abend der Soundtrack der eigenen Jugend, und doch dauert es über eine Stunde, bis sich die ersten – erstaunlicherweise jungen – Zuschauer vor die Bühne bewegen.
Spätestens als Dirk von Lowtzow sich seiner Kopfbedeckung entledigt und der achte Song des Abends, „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“, angestimmt wird, kommt das Publikum mehr und mehr aus sich heraus und skandiert die sloganhaften Titel des Frühwerks, die als Echo durch den Ehrenhof raunen. Das Konzert an diesem Abend, es ist eine ewigwährende Zugabe. Songs, die in den letzten Jahren den Charakter einer klassischen Zugabe innehatten, stellen auf dieser Tour das Gros der Setlist dar.
Am Ende ist dann auch jeder Bann gebrochen. Das Publikum steht, singt, tanzt. Es fordert drei Zugaben ein und wird erhört. Und so kommt das Publikum zur zweiten Zugabe in den Genuss des Höhepunkts jenes Abends, der wider Erwarten kein Klassiker der Band darstellt, sondern das erst im letzten Jahr veröffentlichte Stück „Hoffnung“.
Tocotronic an diesem Abend vor besetzen Liegestühlen auf dem Ehrenhof, im Hintergrund das NRW-Forum für Fotografie, Pop und digitale Kultur, zur Rechten der Band eine das Konzert betrachtende Menschentraube auf den Stufen hinauf zur Tonhalle, all das würde sich zu einer schönen, in Sommerfarben getränkten Polaroid-Aufnahme fügen. Ganz, wie man es von den Cover-Gestaltungen der frühen Tocotronic-CDs kennt. Ein Bild, mit dem gewiss auch von Lowtzow und Band an diesem Abend gut leben können, selbst wenn die Stimmung nicht ganz und gar überkochen wollte.