Londoner Publikum feiert Bühnenstück der Pet Shop Boys

London (dpa) - Alan Turing war seiner Zeit weit voraus. Der britische Mathematiker träumte schon in den 30er Jahren von der universellen Maschine mit eigenem Gedächtnis und ersann die Grundlagen der Informatik.

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Und er ging in den 40er Jahren ziemlich offen mit seiner Homosexualität um. Das wurde ihm zum Verhängnis. An das Schicksal dieses Genies und Außenseiters erinnert das Elektropop-Duo Pet Shop Boys („Go West“) mit seinem 45-minütigen Werk „A Man From The Future“ (Ein Mann aus der Zukunft), das am Mittwoch in London Premiere feierte. Auch ein Deutscher wirkte mit: Der Dresdner Komponist Sven Helbig setzte die Musik für Orchester um.

Herausgekommen ist eine Art musikalischer Nachruf für Erzähler, Chor, großes Orchester und elektronische Elemente. Die Bausteine harmonieren perfekt: Mal legt der Computer ein rhythmisches Piepen unter den vollen Klang des BBC-Konzertorchesters, dann geben die Streicher sanft etwas Farbe zum typischen Klang der Pet Shop Boys.

Juliet Stevenson erzählt in eindringlichen, dichten Sätzen von den Meilensteinen in Turings Leben. Ein Chor greift Schlüsselsätze oder -gedanken auf und wiederholt sie, wie wenn besondere Sätze im Kopf des Zuhörers hängenbleiben und nachhallen. Etwas abseits vom Chor singt Neil Tennant mit, der Frontmann der Pet Shop Boys, ohne sich besonders in den Vordergrund zu drängen.

Helbig und die beiden Pet Shop Boys funktionieren als kreatives Trio schon seit zehn Jahren. 2004 produzierte der Deutsche für die Briten Neil Tennant und Chris Lowe den Soundtrack zum Stummfilm-Klassiker „Panzerkreuzer Potemkin“. 2010/11 orchestrierte Helbig für die beiden Musiker das Ballett „The Most Incredible Thing“, es basiert auf dem Märchen „Das Unglaublichste“ von Hans Christian Andersen.

Die Geschichte Alan Turings ist kein Märchen, klingt aber wie eine bitterböse Erzählung um Vorurteile und Undankbarkeit. Während des Zweiten Weltkriegs knackte der gebürtige Londoner unter anderem deutsche Codes im Dienste seines Heimatlandes und trug einen wichtigen Teil zum Sieg der Alliierten bei.

„Turing hat uns viele Jahre Krieg erspart und vielleicht die deutsche Atombombe“, sagt Helbig. Doch statt als Held gefeiert zu werden, wurde der Mathematiker als Homosexueller verfolgt. Um dem Gefängnis zu entgehen, unterzog er sich einer Hormonbehandlung, der sogenannten chemischen Kastration. 1954 starb Turing an einer Zyanid-Vergiftung, kurz vor seinem 42. Geburtstag. Es gilt als sicher, dass er sich das Leben nahm. Erst fast 60 Jahre später rehabilitierte die Queen den genialen Wissenschaftler.

„A Man From The Future“ will mehr als nur an Turings Schicksal erinnern. „Es ist keinesfalls nur ein historisches Stück, es steht als künstlerische Metapher für menschliche Verfehlungen“, erklärt Helbig. „Im Leben zeigen wir gern auf die Verirrungen anderer, aber es ist Sache der Kunst, zu zeigen, dass es um uns geht.“ In den letzten Sätzen klagt die Erzählstimme an, dass Turing zwar rehabilitiert sei, Zahntausende andere Männer vom selben „Verbrechen“ aber nie freigesprochen worden seien.

Der Deutsche hat eng mit dem weltweit erfolgreichen Elektropop-Duo zusammengearbeitet. „Neil und Chris legen großen Wert darauf, dass man künstlerische Inhalte persönlich bespricht“, sagt er. In einem Berliner Studio hätten sie sich die Musik zusammen angehört, später beim Essen darüber gesprochen. „Das ist ein intensiver Austausch.“

Die Arbeit hat sich gelohnt. Die bewegenden, stark verdichteten Texte über Turing und die perfekte Harmonie zwischen Orchester- und Computermusik begeistern das Londoner Publikum, in dem auch Helbig und Turing-Biograf Andrew Hodges sitzen. In die nachdenkliche Stille nach dem letzten Ton ruft jemand laut „Wow“, dann brandet der Applaus auf, schließlich hält es kaum noch einen Zuschauer in der Royal Albert Hall auf seinem Platz.