Messerscharfe Analyse: „Geschichten aus dem Wiener Wald“
Bregenz (dpa) - Irgendwann steht Marianne ganz alleine auf der Bühne. „Lieber Gott, was hast Du mit mir vor“, fragt sie erst mit zögerlicher, dann mit klagender Stimme. „Was hast Du mit mir vor?
“
Eine Antwort bekommt sie nicht - statt dessen schwindet das Licht, bis Marianne im Dunkeln steht. Die Auftragsoper „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zeichnete am Mittwoch bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele schonungslos den Fall einer jungen Frau aus kleinbürgerlichen Wiener Verhältnissen nach.
„Wien zartbitter“ lautet das Motto der diesjährigen Saison in Bregenz am Bodensee und ähnlich doppeldeutig setzte der österreichische Komponist Heinz Karl Gruber das Theaterstück des ungarisch-österreichischen Schriftstellers Ödön von Horváth von 1931 in eine Oper um. Im Zentrum steht Marianne (Sopranistin Ilse Eerens), die sich gegen ihre Hochzeit mit dem biederen Fleischhauer Oskar (Jörg Schneider) wehrt und am Tag ihrer Verlobung mit Schlitzohr Alfred (Daniel Schmutzhard) durchbrennt.
Nach außen hin bewahrt die Gesellschaft ihre Fassade - doch im Wiener Kleinbürgertum am Ende der 1920er Jahre ist vieles mehr Schein als Sein: Der Vater, der Marianne empört verstößt, ist selbst einem Techtelmechtel mit der Nachbarin nicht abgeneigt. Diese wiederum hatte bereits ein Verhältnis mit Alfred, dass er nur zu gerne wieder aufnehmen würde. Und das Kind, das aus der Beziehung von Marianne und Alfred entsteht, überlebt nur wenige Monate: Die Großmutter bringt es - fast nebenbei - um. Liebe, Glück, Geborgenheit sind in dieser Welt nur von flüchtiger Dauer.
„Für mich ist "Geschichten aus dem Wienerwald" mit seiner Schärfe, seiner Treffsicherheit, seiner beißenden Sozialkritik in der Tat ein sehr zeitloses Stück von wahrhaft Brechtschem Format“, sagt Gruber selbst über das Stück. Horváths Text sei für ihn bereits Musik gewesen: „Der hatte ich aufmerksam zu folgen.“
In vielen Szenen spielt Gruber dann auch mit Worten und Wortfetzen, unterstreicht und betont sie durch eine - weniger eingängige, aber mitunter sehr rhythmische - Melodie. Mit den Ensemble-Szenen habe er dabei ein „ganz verrücktes Stilmittel“ angewandt: Mehrfach reden die Personen wild durcheinander, werfen sich Stakkato-Sätze und einzelne Wörter regelrecht zu. Handlung und Musik gewinnen dadurch nicht nur an Schärfe, sondern auch an Schnelligkeit und Dichte.
Die „lautmalerische Qualität der Worte“ erzeuge Bilder, die reicher und vielfältiger sein könnten als manche Bühnenausstattung, sagt Gruber. Dementsprechend zurückhaltend ist an diesem Abend auch die Szenerie: Wenige Requisiten - eine Decke, ein Picknickkorb, Vorhänge mit Bäumen darauf - umgeben einen Ausflug der Protagonisten in den Wald. Um den achten Wiener Bezirk zu gestalten, reicht eine halb transparente Häuserfassade, und für Mariannes Beichte in der Kirche kommt ein dunkles Holzkreuz von der Decke.
Hórvaths Handlung sei eine „messerscharfe Analyse der Anwohner aus dem raueren Teil Wiens und die gnadenlose Bloßstellung der Eitelkeit, Korruption und letztendlich Grausamkeit dieser Menschen“, sagte Intendant David Pountney im Vorfeld der Aufführung. „Das Stück ist davon geprägt, dass seine Menschlichkeit und sein Humor dem Zuhörer gerade genug Raum lassen, sich zu vergnügen — bevor das Messer sich mit subtiler und charmanter Genauigkeit ins Fleisch frisst.“
Ursprünglich war Grubers Oper für die Saison 2012 geplant - der Komponist brauchte für das Auftragswerk aber mehr Zeit als angenommen. Am Donnerstag folgt auf der Bregenzer Seebühne dann ein bereits bekanntes Stück: Zum zweiten Mal wird dort der Opernklassiker „Die Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart gezeigt. Bis zum letzten Festspieltag am 25. August stehen rund 80 Veranstaltungen auf dem Spielplan des Festivals. Die Veranstalter rechnen mit mehr als 200 000 Besuchern.