Neue Coldplay-CD: Sie wollen rein ins Wohnzimmer
Das neue Album „Ghost Stories“ von Coldplay ist ein Schnitt. Weg von Tempo, Opulenz und Epik. Hinein in eine unsichere Zukunft.
Düsseldorf. Vielleicht war es am 4. Juni vor drei Jahren, als das neue Album seinen Ursprung nahm. Klammheimlich, inmitten eines Orkans. Denn der Pop klammert sich spätestens seit Woodstock ganz gern an solche Ereignisse der Kategorie „denkwürdig“.
Und an jenem Freitagabend waren Coldplay zum ersten Mal Headliner bei „Rock am Ring“, dem größten Open-Air-Festival des Landes, das weltweit zu den wichtigsten Absatzmärkten für Popmusik gehört.
Normalerweise lassen sich die Fans am Nürburgring nur auf die harten Sachen ein: Metallica, Linkin Park, Rage Against The Machine, so etwas halt. Doch 80 000 Menschen hatten zweieinhalb lausig kalte Stunden ausgehalten und zugehört, wie Chris Martin sang.
Als dann um kurz nach Mitternacht passenderweise die letzten Töne von „Every teardrop is a waterfall“ verklungen waren und ein Gewitter von nahezu apokalyptischem Ausmaß losbrach, zogen Zehntausende Rocker — den Refrain des Liedes weitersingend — vom Gelände. In diesen Augenblicken waren Coldplay endgültig im Team der Big Player angekommen.
Kurze Zeit später erschien mit „Mylo Xyloto“ das Studioalbum, das allein schon wegen der zahlreichen Vorbestellungen auf allen Verkaufskanälen die Nummer eins war. Es kam die unvermeidliche lange Tour durch Arenen und Stadien, die Coldplay an die Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit brachte. Dann folgte die Stille der langen Pause.
Und jetzt, drei Jahre später, steht mit „Ghost Stories“ das neue Album in den Regalen — eines, auf dem die Ruhe nach dem Sturm weitergeht. So, als wollten Coldplay mit „Ghost Stories“ die Geister der Vergangenheit zwischen Medienrummel und Größenwahn vertreiben. Geister, die unter anderem am Abend des Ring-Konzerts ins Diesseits getreten waren.
Die neue Platte ist ein Schnitt. Ein Cut. Eine Klappe. Frontmann Chris Martin und seine Mitstreiter Jonny Buckland (Gitarre), Will Champion (Schlagzeug) und Guy Berryman (Bass, Keyboards) haben von „Parachutes“ (2000) und „A Rush Of Blood To The Head“ (2002) über „X&Y“ (2005) und „Viva la Vida“ (2008) bis zu „Mylo Xyloto“ die Verwandlung vom geliebten Indiepop-Geheimtipp zur Hysterie generierenden Stadionband durchlaufen und weit mehr als 50 Millionen Tonträger verkauft. Sie katapultierten den Breitwand-Pop auf die nächste Stufe und paralysierten Fans aller Genres. Sie beschallten die Welt.
Jetzt klopfen sie an die Tür und wollen mit „Ghost Stories“ einfach mal wieder rein ins gemütliche Wohnzimmer. Die Glockenmelodien — die so offensichtlich und umwerfend schön bei U2 und Travis abgekupfert sind — läuten zwar immer noch. Aber die Ohrwürmer sind erst einmal fort. In Stücken wie „A sky full of stars“, „Always in my head“, „Oceans“ und „Another’s arms“ ist alles zurückgefahren, was früher dröhnte und klingelte:
Tempo, Opulenz, Epik. Plötzlich schieben sich elektronische Schichten unter die Melodie. Sphärische Dubstep-Wolken wabern. Es geht nicht mehr um eine Unterlage aus Rampensau-Brettern. Das hier ist ein fein gewebter Teppich des Pop-Wohlgefühls.
Diesem Teppich hört man die Leidenschaft des Quartetts zur Musik jederzeit an. Aus ihm klingt aber auch die Unsicherheit darüber, wie man die Musik in Zukunft ausrichten soll. Dass sich Sonnyboy Chris Martin nach zehn Ehejahren von seiner Frau, der Schauspielerin Gwyneth Paltrow, trennte, ist eine weitere Facette, die vor allem in den Texten eine Rolle spielt.
Diese „Ghost Stories“ sind kein blühendes Leben, kein ekstatisches Bad in der Menge. Sie sind das vielleicht düsterste Album einer Band, die alles hat und alles kann und deren Zukunft doch im Dunkel des Unklaren liegt.