Neuer Chef für die Berliner Philharmoniker
Berlin (dpa) - An diesem Montag (11. Mai) müssen die Berliner Philharmoniker für einige Stunden auf ihre Handys verzichten. Wenn sich die Musiker um 10.00 Uhr an einem bisher geheim gehaltenen Ort einfinden, werden sie ihre Kontakte zur Außenwelt kappen.
124 Orchestermitglieder entscheiden dann, wer künftig ihr Boss sein soll - als Nachfolger von Sir Simon Rattle, der 2018 geht. Mit der Wahl des neuen Chefdirigenten vergeben die Philharmoniker einen der begehrtesten Jobs der Musikwelt.
In einer ersten Runde können die Musiker jeden Dirigenten vorschlagen. Nach einer Diskussion soll eine „Shortlist“ entstehen, über die abgestimmt wird. Notwendig ist eine „deutliche Mehrheit“, wie Philharmoniker-Sprecherin Elisabeth Hilsdorf sagt. Der Auserwählte soll dann angerufen und gefragt werden, ob er den Posten übernimmt.
Jung oder etwas älter, dynamisch oder bedächtig, ein Hansdampf oder ein ehrwürdiger Maestro - am Montag treffen die Philharmoniker auch eine Richtungsentscheidung, wie sich das Orchester in den kommenden Jahren weiterentwickeln soll.
Mit Rattle und Intendant Martin Hoffmann, einem früheren Sat.1-Manager, hat sich das Ensemble zu einem Multimedia-Unternehmen gewandelt. Filme, Kino, Streaming - die „Berlin Phil“ sind auf allen Kanälen präsent, ganz in der Tradition des Technik-Besessenen Herbert von Karajan, der früh mit Video und CD experimentierte.
Ob Gustavo Dudamel, der Lockenkopf aus Venezuela, Christian Thielemann, einstiger Karajan-Assistent und heute Orchesterchef bei der Staatskapelle Dresden, Andris Nelsons, das lettische Energiebündel, zur Zeit beim Boston Symphony Orchestra - kaum ein bekannter Kapellmeister blieb bei den Spekulationen ungenannt. Auch ältere Kollegen wie Mariss Jansons und Daniel Barenboim wurden immer wieder genannt. Jeder lebende Dirigent weltweit sei wählbar, hatte Orchestervorstand Peter Riegelbauer gesagt.
Seit Gründung der Philharmoniker 1882 hat sich das Bild ihrer Chefdirigenten grundlegend gewandelt. Ob Hans von Bülow, Wilhelm Furtwängler oder Herbert von Karajan - sie traten mehr oder weniger als absolutistische Herrscher auf. Mit der Wahl von Claudio Abbado begann die Öffnung. Und Rattle führte die Philharmoniker als demokratisch gesinnter Menschenversteher ins 21. Jahrhundert.
Der Brite (60) setzte Maßstäbe, hinter die das Orchester wohl nicht mehr zurück kann. Er erweiterte das Repertoire, förderte eine Öffnung zu neuen Zuhörergruppen, stellte sich als medial wirksamer Vermittler der Öffentlichkeit.
Dabei war seine Wahl 2001 eine große Überraschung. Wie damals könnte es auch diesmal einen Coup geben. Es gibt im Orchester zwar eine starke Fraktion, die sich Christian Thielemann (56) wünscht. Doch der gebürtige Berliner hat auch viele Gegner. Er verzückt mit Spätromantik sein Publikum. Kritiker empfinden ihn aber musikalisch und auch politisch als zu konservativ.
Im Kreis jener, die immer wieder genannt werden, ist auch Andris Nelsons. Mit 36 Jahren macht der Lette gerade beim Boston Symphony Orchestra Furore. Unlängst dirigierte er Mahlers Fünfte bei den Philharmonikern, das Haus brodelte, die Zuhörer tobten vor Begeisterung. Kein Wunder, dass danach in einer Publikumsumfrage eine Mehrheit sich für Nelsons als Rattle-Nachfolger aussprach.
Dann ist da noch Gustavo Dudamel (34), der Sonnyboy aus Venezuela. Seine Karriere wurde stark von den Philharmonikern gefördert. Doch „The Dude“, wie sie ihn in den USA nennen, hat gerade beim Los Angeles Philharmonic Orchestra bis 2022 verlängert. Und seine Nähe zu Venezuelas Regierung könnte ein Problem sein. Wie Dudamel gehört auch der Kanadier Yannick Nézet-Séguin (40) zur Gruppe der jungen Talente mit Chancen. Er hat das Philadelphia Orchestra vor der Pleite gerettet. Sein Debüt in Berlin nannte ein Kritiker „denkwürdig“.
Ein Dilemma ist, dass es zwar eine ganze Riege junger Dirigenten gibt, Kandidaten im mittleren Jahrgängen aber eher dünn gesät sind. Dazu zählt Riccardo Chailly (62), Chef im Leipziger Gewandhaus und an der Mailänder Scala.
Die großen Stars sind jenseits der Siebzig, etwa Mariss Jansons (72), Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, der allerdings am Freitag seine Vertragsverlängerung in München bis 2021 bekanntgab. Oder Riccardo Muti (73), Musikdirektor beim Chicago Symphonie Orchestra.
Und Daniel Barenboim (72). Zwar hat der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper noch vor wenigen Tagen vehement betont, dass er nicht zur Verfügung stehe. Zweimal scheiterte Barenboim bereits bei einer Philharmoniker-Wahl. Doch trotzdem verbindet den Argentinier mit israelischem Pass eine sehr persönliche Beziehung zum Orchester. Viele würden eine Liaison wohl als Traumhochzeit sehen.