Nils Frahm: Siegeszug eines Grenzgängers
Berlin (dpa) - Er war großer Fan der Grunge-Helden Nirvana, mag heute noch „ein paar Songs von AC/DC“ und hört beim Staubsaugen gern alte Fleetwood-Mac-Platten. Auf der Bühne trägt er T-Shirt statt Frack.
Nils Frahm ist also nicht der schöngeistige Neoklassik-Komponist, den man hinter seinen intimen, oft melancholischen Piano-Alben vermuten könnte. Ohne Berührungsängste, fast schon kompromisslos pflegt der 32-Jährige auch eine Vorliebe für Elektro-, Ambient- und Avantgarde-Klänge. Daraus wird am Ende eine ganz eigene Form von Pop.
Mit kühnem Stil-Mix ist Frahm still und heimlich zu einem der auch international anerkanntesten deutschen Musiker geworden. „Mich interessieren zu viele Sachen, als dass ich mich nur aufs Klavier konzentrieren könnte“, sagt der quirlige Wahl-Berliner im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Und wie sehr ihm die Vorstellung gefalle, „dass die Tochter ihren Vater zu einem meiner Konzerte mitbringt. Und dass sich beide am Abendessens-Tisch endlich mal einig sind: weil sie nämlich gemeinsam Nils Frahm gut finden.“
Der eindringliche Soundtrack zum gefeiertem Film „Victoria“ über eine Nacht im pulsierenden Berlin krönt nun eine zehnjährige Erfolgsgeschichte. Und auch dieses Album dürfte wieder vielen Freunden anspruchsvoller Musik jenseits aller Genre-Schubladen gefallen. Nach einem kurzen Techno-Opener von DJ Koze lässt uns Frahm eintauchen in acht berauschend intensive, sphärisch-orchestrale Tracks, die Bilder im Kopf erzeugen, ohne dass man das Kino-Meisterwerk von Sebastian Schipper gesehen haben muss.
Die für den Deutschen Filmpreis nominierte „Victoria“-Musik hat Frahm ähnlich komponiert - oder besser: improvisiert - wie einst Neil Young zum Jim-Jarmusch-Film „Dead Man“. Nämlich direkt vor einem zentral im Raum aufgestellten Fernsehschirm, der ihm und seinen Freunden Anne Müller (Cello), Viktor Orri Árnason (Geige) und Erik K. Skodvon (Gitarre) die Bilder in Dauerschleife präsentierte. „Ungewöhnlich viel kreative Freiheit“ habe ihm Schipper gegeben, den er bis dato vom Film „Absolute Giganten“ (1999), aber noch nicht persönlich kannte. Aus rund 100 Session-Schnipseln bastelte der Regisseur dann einen traumhaft schönen Soundtrack.
Unkonventionell arbeitete Frahm auch bei den Aufnahmen zu seinem zweiten Album dieses Jahres, dem bereits Ende März erschienenen „Solo“. Dafür spielte er acht hauchzarte Piano-Stücke auf dem angeblich größten Klavier der Welt, einem Klavins M370 mit 1,8 Tonnen Gewicht und 3,70 Meter Höhe. „Man sitzt daran wie an einer Kirchenorgel und muss erstmal auf ein Podest klettern“, erzählt Frahm. Das Ergebnis der vier Tage beim Tübinger Klavierbaumeister David Klavins verschenkte Frahm zunächst als Download, bevor die Musik auf CD und Vinyl erschien. „Ich wollte meinen Fans etwas zurückgeben, denn ich bekomme ja auch sehr viel von ihnen.“
Was seine Zuhörer betrifft, ist Frahm ein echter Romantiker - er achtet und umgarnt sie. „Die Leute reagieren oft sehr stark auf meine Musik, bis zu dem Punkt, dass sie weinen müssen“, hat er beobachtet. „Eine Achterbahn der Gefühle“ sollen seine Konzerte sein. Deshalb hat der schlaksig-jungenhafte Bartträger auch keine Sorge, demnächst bei großen Sommer-Festivals wie beispielsweise Roskilde, Montreux, Melt oder Lovebox London mit seiner leisen Musik fehl am Platze zu sein. Frahm fühlt sich in der Lage, jedes Publikum zu „kriegen“ - ohne es ihm allzu leicht zu machen, also zu seinen Bedingungen. „Irritation ist ein ganz dicker Hammer in meinem Werkzeugkasten“, sagt er.
Beim ambitionierten Kleinlabel Erased Tapes hat Frahm seit Jahren eine sichere künstlerische Heimat - und erteilt daher allen Lockrufen größerer Plattenfirmen eine Absage: „Ich bin ein loyaler Mensch und kann von meiner Musik sehr gut leben.“ Ihm kommt wohl auch zugute, dass er weiterhin einen bescheidenen Lebensstil im unspektakulären Berliner Stadtteil Wedding pflegt - mit einer kleinen Wohnung, deren Schlafzimmer auch noch sein Aufnahmestudio „Durton“ beherbergt. „Ich brauche da nicht viel“, sagt Nils Frahm.