R.E.M.-Konzert auf der Loreley: Rock ist romantisch

Für ihr Konzert in NRW suchten sich R.E.M. die Freilichtbühne auf der Loreley aus – eine perfekte Kulisse.

St. Goarshausen. Ihre Verlockungen sind berühmt-berüchtigt. Sie hat Schiffer, Fischer und Dichter verzaubert und später mit ihrer Schönheit scharenweise englische Touristen angezogen. Jetzt ist auch Michael Stipe der Loreley verfallen. In seiner Ansage zum zwölften Stück, "The Great Beyond", outet sich der Frontmann von R.E.M. als Fan des Schieferfelsens, den die Ballade zur Nixe verklärte.

"Am Nachmittag", sagt der 48-Jährige, "habe ich von der Aussichtsplattform in die Ferne geblickt und eine großartige Landschaft gesehen, mit hoch aufragenden Felsen und einem tiefen Tal und im Tal den Fluss". Der Fluss ist der Rhein, und hier, knapp 130 Meter oberhalb des Städtchens St. Goarshausen, auf der Freilichtbühne Loreley, steigt das vierte Deutschland-Konzert von R.E.M.

Der so gepriesene Fernblick bleibt 14000 Besuchern aber verwehrt. Als die Band kurz nach 21 Uhr mit "Living Well´s The Best Revenge" ihren Einstand gibt, ist es schon dunkel und die Menschen vor der Bühne stehen so dicht an dicht, dass jemand, der es nicht weiß, nie ahnen würde, dass sich unter ihren Füssen die in Stein gehauenen Ränge eines Amphitheaters befinden. Aber dem Zauber des weitläufigen, von Bäumen umstandenen und von Bergflanken gesäumten Geländes können auch sie sich nicht entziehen. In der Ferne auf den Hügeln blinken Lichter, und die Bühne unterm spitzen, weißen Tulpenzelt gleicht einer magischen Insel im Meer der Dunkelheit. Rock ist romantisch.

Drei große Leinwände zoomen die Gesichter von Michael Stipe (Gesang), Mike Mills (Bass) und Peter Buck (Gitarre) auch für diejenigen heran, die keinen Platz direkt vor der Bühne ergattert haben. Für gut zwei Stunden gelingt es dem Team der Tontechniker, das schwierige Terrain optimal zu beschallen. Hier und da verzerrt zwar eine Windböe die Akustik, aber ansonsten ist der Sound satt und angenehm sauber.

Wie schon zuvor am Dresdener Elbufer, auf der Berliner Waldbühne und in Stuttgart vor dem Neuen Schloss liefern Stipe und seine Mitstreiter einen wunderbaren Querschnitt durch ihre knapp 30-jährige Bandgeschichte. Er reicht vom Rat, nicht zurück nach Rockville zu gehen (Don’t Go Back To Rockville) über die Liebeserklärung an die Eine, einzig Geliebte (The One I Love) und die Aufforderung, mutig voranzuschreiten (Walk Unafraid) bis hin zur Beteuerung, der Welt den Plattenaufleger machen zu wollen (I’m Gonna DJ).

Aber da sind wir schon bei der dritten und vorletzten Zugabe. Die martialisch anmutende blaue Kriegsbemalung hat Stipe längst abgelegt, präsentiert sich aber, ungeachtet dessen, kraftvoll und energiegeladen. Seine Stimme tariert das Spannungsfeld zwischen Poesie und Rotzigkeit perfekt aus.

Auch darin liegt ein weiterer Zauber dieses Abends. Er bietet R.E.M. Gelegenheit, die ganze Bandbreite eines Repertoires vorzuführen, das sich immer wieder neu erfindet und nie da stehen bleibt, wo man es gerade vermutet. Das kann poppig-rockig klingen, wie bei "Supernatural Superserious", der ersten Single des im März veröffentlichten, aktuellen Studioalbums "Accelerate" (von dem es an diesem Abend sechs Stücke gibt), mal düster, fast sphärisch, dann wieder mit einem Beigeschmack von Country, Folk oder veredelt von psychedelischen Klängen, in irrer Titty-Twister-Club-Attitüde oder wildem Frohsinn.

Die Konzertreise geht von den 1980ern, in denen die Band an einem College in Athens (Georgia) gegründet wurde, bis weit über die Millenniumsgrenze, und da ist Platz für viele Hits und unverzichtbare Stücke: "Man On The Moon", "Bad Day" und "Losing My Religion, "Imitation Of Life", What´s The Frequency, Kenneth?", "Orange Crush" und "Electrolite".

Das begeistert 14000 Menschen, sie schmelzen dahin. Um (fast) am Ende dort anzukommen, wo alles begonnen hat. Bei der Loreley. "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin. Ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn", erklingt da eine Stimme. Es ist die von Stipe. Die Nixe und ihr Felsen, so scheint es, haben ihn voll erwischt. Rock ist romantisch.