Ruhrtriennale: Die Suche nach dem Glück
Duisburg (dpa) - Auf 20 Wälzer erstreckt sich das Familienepos „Les Rougon-Macquart“ von Émile Zola - die Geschichte einer Familie in Frankreich zur Zeit der industriellen Revolution.
Fast 150 Jahre später lässt der belgische Regisseur Luk Perceval den Mammutroman für die Ruhrtriennale in den Ruinen der Industrie in einem ehemaligen Hüttenwerk in Duisburg aufleben.
Zolas Tausende Seiten langen Romanzyklus auf die Bühne zu bringen, ist ein ziemlich kühnes Projekt. Aber der Yoga- und Meditationslehrer Perceval hat Übung in großen Stoffen. Mit „Schlachten“ fasste er einst die acht Königsdramen von Shakespeare zusammen - zu einem Zwölf-Stunden-Marathon.
Perceval macht es bei der Ruhrtriennale kürzer. Er entwickelte in Kooperation mit dem Thalia Theater Hamburg aus den „Rougon-Macquart“ eine Trilogie, die sich über drei Ruhrtriennale-Spielzeiten erstrecken wird und somit ein zentrales Projekt von Intendant Johan Simons ist.
Das Experiment ist solide gestartet. Die Uraufführung des ersten Teils „Liebe“ am Mittwochabend wurde vom Publikum mit viel Applaus honoriert, der auch einem durchweg starken Ensemble galt.
Wie schon in der Ruhrtriennale-Auftaktpremiere „Accattone“, die Intendant Simons in einer halb offenen Kohlenmischhalle spielen ließ, geht es auch in der offenen Gießhalle in Duisburg recht luftig zu. Auch das ist ein Grund, dass Perceval nach eigenen Worten eine mit zwei Stunden überschaubare Bühnenfassung schrieb.
Die existenzielle Frage bei Zola lautet: Kann der Mensch sein Schicksal beeinflussen, was ist Milieu, was ist ererbt? Zola teilte die Familie dafür auf in einen bürgerlichen und einen Bastardzweig um die Wäscherin Gervaise. Sie möchte sich aus ihrem Elend, Alkohol und Armut befreien und versinkt doch immer tiefer darin. Dem gegenüber steht der Doktor Pascal, der den Stammbaum der Familie erforschen will, aber ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Nichte Clotilde anfängt und im Liebestaumel seinen Ruf und sein Geld verliert.
Schon die Bühne - ein wie eine Welle nach oben gewölbter Holzboden - versinnbildlicht die Schwierigkeit, sich aus dem einmal zugewiesenen Raum zu befreien. Auf dem Weg nach oben gleiten die Protagonisten immer wieder ab. Ein Seil schwebt über dem Boden - in ihm verstricken sie sich oder schwingen sich nach oben, um dann wieder nach unten zu rutschen.
Als Pfeiler dienen Perceval die neun bekanntesten Romane des Zyklus wie etwa „Nana“, die Geschichte der Tochter von Gervaise, die zur Kurtisane wird, oder die Bergarbeitergeschichte „Germinal“, die dann im dritten Teil der Trilogie thematisiert wird. 14 Schauspieler stehen auf der Bühne, und wer die Verwandtschaftsbeziehungen der Rougon-Macquart nicht kennt, wird da erst einmal den Überblick verlieren.
Letztlich kristallisieren sich aber zwei Dramen um Doktor Pascal und Clotilde sowie um Gervaise heraus. „Ich will glücklich sein, vollkommen, für alle Zeit und endgültig glücklich“, ist einer der ersten Sätze, die Pascal spricht. Damit setzt er ein Leitmotiv für all die verlorenen Kreaturen auf der Bühne.
Umzingelt von Klang ist man dagegen bei Luigi Nonos „Prometeo“. Das Werk, das am Dienstag in einer Neuproduktion Premiere feierte, ist ein gigantisches Musiktheater. In der Duisburger Kraftzentrale versucht Eva Veronica Born, die klanglichen Ereignisse noch mit einer Art Rauminstallation zu überhöhen. Es beginnt mit einem stockenden Einlass, der die Zuschauer nur in kleinen Gruppen in eine Nebelwand entlässt, an deren Ende ein schlauchartiger Eingang für jeweils nur eine Person zum Spielort führt. Dort sind auf einem gewaltigen Baugerüst an allen vier Raumseiten insgesamt neun Klanginseln aufgebaut, auf denen die Instrumentalisten, Choristen und Solisten agieren.
In der Mitte des Raums befindet sich die technische Kommandozentrale mit Bildschirmen und Mischpulten. Denn „Prometeo“ lebt auch von Live-Elektronik, die aus den ohnehin verwirrenden Klängen Nonos ein Gespinst von Überlagerungen an der Grenze des Hörbaren webt. Als „Tragödie des Hörens“ hat Luigi Nono „Prometeo“ bezeichnet.
Das Publikum auf kathedralenartig angeordneten Sitzbänken ist vom Klang gewissermaßen umzingelt. Wunderdinge vollbringen die Musiker, die unter Ingo Metzmacher und Matilda Hofman mit atemberaubender Präzision Nonos Millimeterarbeit ausführen. Insgesamt scheint der Raum bei aller Faszination doch zu groß, die Musiker sind zu weit weg. Die Sogwirkung, die „Prometeo“ etwa in der Salzburger Collegienkirche entfachte, will sich in Duisburg nicht recht einstellen.