Ruhrtriennale startet mit Gluck-Oper „Alceste“
Bochum (dpa) — Mit einhelliger Begeisterung ist in der Bochumer Jahrhunderthalle mit der Premiere von Christoph Willibald Glucks Oper „Alceste“ die Eröffnung der Ruhrtriennale gefeiert worden.
Fast dreieinhalb Stunden dauerte Johan Simons’ Inszenierung der italienischen Urfassung der nur selten gespielten Oper am Freitagabend.
Zehn Jahre nach David Pountneys spektakulärer Bühne mit ihren fahrenden Tribünen für Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ dient wiederum die Halle 1 der Jahrhunderthalle als Spielort, der erneut mit einer außergewöhnlichen Raumlösung überrascht.
Leo de Nijs hat den Boden der Halle, die an ein Kirchenschiff erinnert, zu einer langen Spiegelfläche gemacht. Am Fußende steigt eine Zuschauertribüne steil nach oben, eine weitere zieht sich auf einer Seite flach an der Spielfläche entlang, gegenüber sitzt mittig das Orchester.
Es gibt also sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen auf der Spiegelfläche, die wohl an den antiken Lethe-Fluss des Vergessens erinnern soll - was aus heutiger Sicht problematisch scheint. Denn es geht um den Freitod der Titelheldin Alceste, die mit ihrem Opfer einem rätselhaften Orakelspruch Genüge tun will, um ihren todkranken Gatten König Admeto zu retten.
Dieser aber bleibt bis nach der Pause ein Phantom, weil er erst sehr spät in Erscheinung tritt. Auf der Bühne stets präsent dagegen ist die Titelheldin, die in überwiegend durchkomponierten Szenen alle emotionalen Stadien zwischen geläuterter Entrückung und Verzweiflung durchlebt, meistens begleitet und kommentiert durch den Chor.
Er wolle in dieser Spielzeit die europäischen Werte und ihre Wurzeln in der Aufklärung befragen, hatte Intendant Johan Simons vorab gesagt. Wie schon in der vergangenen Spielzeit hat er die Auftaktpremiere selbst inszeniert. Dass sein über drei Spielzeiten gespannter Slogan „Seid umschlungen“ zu einer Zerreißprobe werden würde, hatte Simons seinerzeit sicher nicht geahnt, als er das an Schillers „Ode an die Freude“ angelehnte Motto wählte.
Umso schwerer fällt es, zu verstehen, wie Simons den Opfertod mit den europäischen Werten in Einklang bringen will. Gewiss war Christoph Willibald Gluck (1714 bis 1787) nicht nur der große Opernreformator, der die feudale Barockoper von ihren gespreizten Konventionen und leeren Virtuosen-Gesten entrümpelte und authentische Gefühle auf die Bühne brachte. Er war auch eine Schlüsselgestalt der Aufklärung, deren Errungenschaften Simons heute in Gefahr sieht.
Aber wofür soll der Alcestes Opfertod heute stehen? Für unser Engagement für die westlichen Werte der Aufklärung? Für Europa? Wozu will uns der fabelhafte Chor MusicAeterna herausfordern, der im ersten Drittel des Abends einmal plötzlich auf das Publikum zustürmt, in dessen erster Reihe NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft neben Intendant Johan Simons sitzt? Zentimeternah vor der ersten Reihe stoppen die Sänger und blicken provozierend und hämisch ins Publikum, als wollten sie sagen: Na, wer hat hier den Mut, aufs Ganze zu gehen?
Den ganzen Abend lang hält Simons den Chor rastlos in Bewegung. Er inszeniert ihn nicht als Kollektiv, sondern zeichnet jede einzelne Figur individuell. Greta Goiris hat lange, fließende Gewänder und klassische Anzüge geschneidert, garniert mit Blumen-Buketts.
Als harte Brechung der zeitlos abstrakten Ästhetik im Charme des Industrie-Ambientes fungieren Hunderte von weißen Plastikstühlen, die auf der Spielfläche hin- und hergetragen, geworfen und geschleudert werden und einmal sogar wie eine Lawine vom Bühnenhimmel herabdonnern. Mit der Zeit ermüden allerdings sowohl die Stuhl-Manöver wie auch das ewige Hin-und-Her-Gerenne auf der Bühne.
Die Spannung halten René Jacobs mit dem grandiosen B’Rock Orchestra, das fabelhafte Sängerensemble und der makellos singende und mitreißend spielende MusicAeterna-Chor aus dem russischen Perm. Das Solisten-Ensemble überragt Brigitte Christensen in der überaus schwierigen Titelrolle, die neben sicheren Spitzentönen auch eine profunde Tiefe verlangt.
Christensen meistert die stimmlichen Anforderungen souverän und mit warmer Leuchtkraft, hinreißend singt und spielt auch Bariton Georg Nigl in mehreren Rollen vom öligen Herold bis zum eitlen Apollo. Das Fazit dieser musikalisch über jeden Zweifel erhabenen Aufführung aber bleibt zwiespältig, denn szenisch tritt der Abend oft auf der Stelle und bleibt in seiner These unklar.