The 1975 begeistern mit nostalgischem Sound

Hamburg (dpa) — Eigentlich ist Matthew Healy, Sänger, Texter und Rhythmusgitarrist der britischen Band The 1975, der klassische Anti-Popstar. Geradezu unscheinbar wirkt der 27-Jährige in seinem tarnfarbenen Pulli, als er zum Gespräch mit Journalisten antritt.

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Das Gesicht versteckt er hinter seinen dunklen Locken, wenn er über sich selbst reflektiert. „Ich betrachte mich als sehr merkwürdige Person, die für andere merkwürdige Personen Musik macht“, analysiert der Sohn einer britischen Schauspielerfamilie.

Abends scheint der Frontmann dann wie ausgewechselt, als er mit seinen Mitstreitern unter Jubel die Bühne in Hamburg betritt. In hellblauer Bundfaltenhose tanzt und taumelt er hinter dem Mikro, streicht sich immer wieder die Haare aus dem Gesicht und schwingt die Hände zu großen Gesten auf. Dazu ertönt der neue Song „Love Me“, der mit seinen funkigen Gitarren an „Fame“ von David Bowie erinnert.

4000 meist sehr junge Menschen hängen dem Frontmann an den Lippen, als er in dem Lied die Selfie-Kultur und die Negativseiten des Ruhms anprangert. Denn Ruhm haben die vier jungen Männer aus Manchester derzeit jede Menge: Gleich in sechs Ländern landeten sie mit ihrem zweiten Album auf der Pole-Position der Charts — darunter Großbritannien, Australien und die USA.

In Deutschland schafften sie es bis auf Platz 28. Sie sind demnächst auch in Berlin und München zu sehen, sowie Anfang Juni bei Rock am Ring und Rock im Park. The 1975 konnten zudem noch einen amüsanten Rekord für sich verbuchen: „I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It“ ist das Album mit dem längsten Titel, das jemals die US-Billboard-Top-200 anführte.

Der Erfolg der Briten ist überraschend. Denn anders als ihre Landsmänner von One Direction passen sie sich nicht dem Mainstream-Sound an. Ihr neues Album flirtet mit so vielen Genres und Stilen, dass man ihre Musik nur schwer einordnen kann. Von Synthiepop über Indierock bis Jazz ist alles dabei. „Wir sind keine Puristen und kennen keine Genre-Grenzen“, sagt Healy. Live wirken ihre Lieder allerdings eher wie aus einem Guss als auf Platte.

Achtziger-Synthesizer-Sounds von gleich zwei Keyboardern sorgen für den roten Faden. Unterstützt werden sie bei ihrem Auftritt von einer Saxophonistin, der sie im Song „Me“ ein minutenlanges Solo gewähren. Das freut dann auch die älteren Semester, die sich unter die junge Meute mischen. Denn die Musik von The 1975 hat auch etwas herrlich Nostalgisches.

Auf der Bühne erstrahlen die vier monströsen Monitorsäulen in poppigsten Farben. Und doch sind The 1975 nicht ganz so harmlos, wie es das Konzert vermuten lässt. In den Songtexten geht Healy gnadenlos offen mit seiner Drogensucht, Depressionen und seinem Sexleben um, was die Jungspunde im prüden Amerika nicht unbedingt zu Lieblingsschwiegersöhnen macht. „Die Leute werfen mir vor, dass ich Drogen romantisiere — aber das ist lächerlich“, findet Healy, der sich offen zum Kokain-Konsum bekennt. „Ich bin nicht stolz darauf, ich thematisiere es, weil es Katharsis für mich bedeutet.“

Healy ist 27, in diesem Kontext ein durchaus brisantes Alter, wenn man an den Club 27 toter Rocklegenden denkt: „Ich plane nicht, jung zu sterben. Ich will William S. Burroughs werden, nicht Kurt Cobain oder Jim Morrison“, sagt er entschieden. Als Jim Morrison mit offenem Flatterhemd und schwarzer Lederhose inszeniert er sich dann aber trotzdem in der mit Kirchen-Chorälen dekorierten Ballade „If I Believe You“. Mit ausgebreiteten Armen vor der weißen Leinwand wirkt er wie ein Messias für die Kids in den ersten Reihen, die jede Zeile mitsingen.

Aber The 1975 können auch große Popohrwürmer schreiben: Hymnenhaft verabschieden sie sich im Zugabenblock mit den Singles „Chocolate“ und „The Sound“. Die Menge hüpft — und The 1975 haben sich eindrucksvoll als Rockgröße der Zukunft empfohlen.