Üppig und episch: Indiefolk als großes Kino
Berlin (dpa) - Wer auf Indie-Folk im Großformat steht, kommt in diesem Herbst an drei Alben aus Nordamerika kaum vorbei: Von The Barr Brothers stammt das stärkste Werk, aber auch Musée Mécanique und Hey Rosetta!
liefern wieder hohe Qualität ab.
THE BARR BROTHERS: Meisterwerk aus dem Nichts
Die 13 Songs auf „Sleeping Operator“ (Secret City), dem zweiten Album des hierzulande bisher völlig unbekannten amerikanisch/kanadischen Quartetts mit Wohnsitz Montreal, sind viel mehr als nur feinster Folkrock zwischen Wilco, Paul Simon, The Avett Brothers und The Band. All diese Einflüsse hatte man in letzter Zeit auch schonmal woanders gehört, wenngleich selten in solcher Perfektion.
Was den Nachfolger des selbstbetitelten Debüts der Barr Brothers (2011) definitiv zu einem Kandidaten für die Jahresbestenlisten 2014 macht, sind seine ungewöhnlichen Klangfarben - vor allem von Sarah Pagés zart gezupfter Harfe und anderen exotischen Instrumenten wie Marimba, Dulcimer oder afrikanischer Ngoni.
Schon der instrumentale Opener „Static Orphans“ mit einem zauberhaften Harfe/Banjo-Arrangement benötigt gerade mal zwei Minuten, um den Hörer in einen Folkpop-Märchenwald zu versetzen. Handclaps, Drums und Bass leiten über in den wuchtigen Rocksong „Love Ain't Enough“ mit der sensiblen, leicht heiseren Soul-Stimme von Brad Barr und einem bohrenden Gitarrensolo als Sahnehäubchen.
Ein geradezu altmeisterlich versierter Einstieg, der die enorme Reife seiner Musiker bereits spüren lässt - Brad und sein Bruder Andrew haben schon etliche Jahre in der nordamerikanischen Indierock-Szene auf dem Buckel, die Gäste stammen von Arcade Fire oder aus der Patrick Watson Band.
Es fällt nicht leicht, aus diesem makellosen Album einzelne Highlights herauszuheben, aber natürlich gibt es sie: die erhebende Gospel-Ballade „Come In The Water“, die ihre wunderbare Melodie mit majestätischen Chören und Bläsersätzen über fast sieben Minuten genüsslich ausspielt; das wie ein Wüstentrugbild dahinflirrende „Little Lover“ mit besagter Ngoni und entfesselter Mundharmonika; an Nick Drake erinnernde Akustikballaden wie „Even The Darkness Has Arms“ und „Valhallas“; den rauen Folk-Blues „Half Crazy“.
Und schließlich zwei der schönsten Verbeugungen vor den Beach Boys seit langem: „How The Heroine Dies“ und „Please Let Me Let It Go“ kommen mit himmlischen Harmoniegesängen den oft zitierten „pocket symphonies to God“ eines Brian Wilson sehr nah. Fazit: Mit „Sleeping Operator“ ist den Barr Brothers quasi aus dem Nichts ein Meisterwerk des Cinemascope-Folkrock geglückt.
MUSÉE MÉCANIQUE: Für Träumer und stille Genießer
Das Debütalbum „Hold This Ghost“ von Musée Mécanique war eine der Überraschungen des Pop-Winters 2010: Zehn zarte, bittersüße Songs, die wie in Zeitlupe braunstichige Landschaftsbilder am Hörer vorüberziehen ließen. Danach: Stille. Fast hatte man die Hoffnung auf ein weiteres Kapitel aufgegeben.
Die zweite Platte der US-Band aus Portland/Oregon rechtfertigt nun jede Sekunde der überlangen Wartezeit. Mit „From Shores Of Sleep“ (Glitterhouse) perfektionieren Musée Mécanique ihren sehr eigenen Indie-Folk-Sound, den die beiden Songwriter Sean Ogilvie und Micah Rabwin schon vor fünf Jahren auf dem Vorgänger zu erstaunlicher Reife entwickelt hatten.
Wieder sind zahllose Streich- und Blasinstrumenten zu hören, die den kammermusikalischen Ansatz dieser Musik noch häufiger ins Orchestrale steigern. Watteweiche Keyboards, Kontrabässe, Akustikgitarren und singende Sägen verstärken die verträumte Atmosphäre von Liedern wie „O Astoria“, „A Wish We Spoke“ oder „Along The Shore“.
Noch schöner als schon beim Debüt klingen die Gesangs-Arrangements - die sanften Stimmen von Ogilvie/Rabwin harmonieren wie damals bei Simon & Garfunkel oder Crosby, Stills, Nash & Young. Auch die Texte spiegeln die großen Ambitionen von Musée Mécanique: „From Shores Of Sleep“ ist ein lupenreines Konzeptalbum, es handelt von der Seefahrt und „dem ganzen, großen Drama des offenen Meeres“, wie es die zu Recht stolze Plattenfirma beschreibt.
Mit erfolgreichen Bands wie Mumford & Sons, Fleet Foxes oder Passenger ist Indiefolk längst im Pop-Mainstream angekommen. Musée Mécanique zeigen, dass sich diesem vertrauten Sound durchaus noch neue Facetten abgewinnen lassen.
HEY ROSETTA!: Verspielt und euphorisch
Auch diese siebenköpfige kanadische Band aus Neufundland kann auf ein großes Umfeld befreundeter Musiker setzen, die den ohnehin üppigen Sound gelegentlich ins Monumentale aufpumpen. Bläser und Streicher, jede Menge Gitarren und Keyboards sind auch auf „Second Sight“ (Unter Schafen) zu hören, dem Nachfolger des viel gelobten „Seeds“ (2012).
Aber trotz der opulenten Produktion hat man nicht den Eindruck, dass Hey Rosetta! nun unbedingt den Landsleuten Arcade Fire, den Briten Mumford & Sons oder gar Coldplay auf dem Weg in die großen Stadien folgen wollen. Für den ganz großen kommerziellen Wurf klingt diese Musik auch immer noch zu wenig berechnend, zu verspielt und zu euphorisch.
In den ersten Songs von „Second Sight“ schrammt mancher „Ohoho“-Refrain zwar nur knapp am Indiefolk-Klischee vorbei, doch das Album steigert sich mit zunehmender Spieldauer seiner gut 56 Minuten. Ab der schönen Ballade „What Arrows“ legt die Band ihre Zappeligkeit ab, die sie zeitweise in Vampire-Weekend-Nähe geführt hatte. Auch die helle, fragile Stimme von Leadsänger und Frontmann Tim Baker hebt die neuen Lieder von Hey Rosetta! erneut weit über den Branchendurchschnitt.