Kultur Retrospektive: Tony Craggs Abenteuer mit den Materialien
Umwerfende Vielfalt der Formen: Das Von der Heydt-Museum zeigt die erste große Retrospektive des Bildhauers Tony Cragg.
Wuppertal. Der Weltstar der Bildhauerei setzt auf britisches Understatement: „Es ist nicht einfach, eine Ausstellung in Wuppertal zu machen, weil es ein Heimspiel ist“, sagt Tony Cragg. „Ich sehe die Leute ja hinterher auf der Straße wieder und möchte nicht, dass sie eine schlechte Meinung von mir haben.“
Genau das Gegenteil wird eintreten. Denn die erste große Retrospektive des Bildhauers (Jahrgang 1949) zeigt die herrliche Fülle seines Schaffens, die kaum fassbare Vielfalt der Formen, die er gefunden hat, und wie sie doch alle miteinander verbunden sind. Das Von der Heydt-Museum in Craggs Wahlheimat Wuppertal hat für ihn das Haus komplett leergeräumt, kuratiert hat er die Ausstellung weitgehend selbst.
In 26 Räumen breitet er unter dem Titel „Parts of the World“ sein immenses Werk aus, darunter nie gezeigte und rund ein Dutzend neuer Werke: von der ersten kleinen Radierung 1969, als er nach der Ausbildung zum Labortechniker sein Kunststudium in Cheltenham anfing, bis zu ganz aktuellen Arbeiten aus Holz und Glas (s. Kasten). „Ich habe immer vom Material gelernt, das ist das Wichtigste“, sagt Tony Cragg. „Material ist alles. Wir bestehen aus Material, und der Raum, in dem wir uns befinden, besteht auch aus Material. Daher kann ich mir keine Realität vorstellen, die nicht Material ist.“
Von Anfang an lotet er aus, was Material und Realität hergeben. Kartoffelköpfe mit knallrotem Mund, rosa Ohren und blauen Augen hat Cragg 1970 kreiert und fotografiert — seine Antwort auf Andy Warhols Marilyn-Serie. Er fotografiert sich im Raum, experimentiert mit Umrissen und Schatten, setzt sich mit Minimalismus und Konzept-Art auseinander.
Doch Cragg sucht einen anderen, einen komplexeren Weg, den Dialog zwischen Form und Inhalt: „Es gibt keine Form, die keinen Inhalt hat, und es gibt keinen Inhalt, der keine Form annimmt. Alle Formen haben eine Bedeutung.“ In den 70er und 80er Jahren arbeitet er mit gefundenem Plastikmüll, arrangiert ihn zu farblich freundlichen Feldern und Figuren, die auf den zweiten Blick in deutliche Konsumkritik umschlagen.
Die Ausstellung ist über die drei Etagen nur teilweise chronologisch aufgebaut, stattdessen stellt sie immer wieder spannungsreiche und sinnstiftende Verbindungen her zwischen Werken aus verschiedenen Entwicklungsphasen und Materialien, oft begleitet von Zeichnungen, in denen Cragg seine Ideen entwickelt hat
Die Gruppen aus buntem Plastik fand er nach einer Weile „künstlerisch nicht mehr so interessant, weil diese Formen von ökonomischen Interessen vorgegeben sind. Bildhauerei ist etwas ganz anderes“. Nach Jahrtausenden, in denen Künstler um realitätsgetreue und anatomisch genaue Abbildungen gerungen haben, gehe es heute darum, neue Formen zu finden, die wir oft noch gar nicht kennen.
Die entwickelt er seither in vielen faszinierenden Varianten - Skulpturen, die Porträts im Profil zeigen, die sich in den Raum winden, die die innere Persönlichkeit nach außen drehen, die sich zu Gruppen quetschen. Denn Tony Cragg geht es nie nur um die Oberfläche, so vielgestaltig er sie in Glas, Gips, Fiberglas, Stahl und Kevlar auch präsentiert.
„Mich interessiert nicht nur das, was auf der Oberfläche erscheint. Mich interessiert die Kausalität — warum das so aussieht, welcher innere Aufbau das ermöglicht“, sagt der Künstler. „Wie bei einem netten Gesicht und schönen Klamotten will man auch bei einem Ding wissen, was dahintersteckt.“ Bis heute ist Cragg unglaublich produktiv, bis heute entwirft und entwickelt er seine Arbeiten mit der Hand und nicht am Computer: „Ich muss erleben, wie die Sachen gemacht werden.“
Eine renommierte Kunstzeitschrift maulte neulich, Tony Cragg mache ja immer dasselbe. Ach was! Hier kann sich deren Autor aufs Schönste davon überzeugen, wie sehr er sich irrt.