„verwundert seyn — zu sehn“: Ballett auf dem Seelengrund
Martin Schläpfer erforscht in seinem aktuellen Werk die Tiefen der Psyche.
Düsseldorf/Duisburg. Der neue Ballettabend von Martin Schläpfer beginnt mit einer anrührenden Geste. Der Chefchoreograf der Oper Düsseldorf/Duisburg widmet seine Uraufführung „verwundert seyn — zu sehn“ einem seiner Tänzer: Bogdan Nicula, ein großes Talent, ein Ausnahmekünstler, mit dem Schläpfer seit 14 Jahren arbeitet, ist schwer erkrankt. Ungeahnt erhält das Stück, welches das Dunkel ergründet, um das Leben zu würdigen, eine persönliche Dimension.
In einem Text des Philosophen Arthur Schopenhauer fand Schläpfer den Titel für sein Werk „verwundert seyn - zu sehn“. Er benennt Ausgangspunkt und Ziel einer Reise, die in das Dickicht der Bedürfnisse und Zwiespalte führt. In ihnen verheddert sich der Mensch und fragt sich am Ende seines Lebens, ob er es überhaupt je gespürt hat, das Leben. Der Tänzer Marcos Menha steht im Zentrum dieses Streifzugs durch die Innerlichkeit, den Schläpfer wie eine Geisterstunde inszeniert, weil in der Nacht der Verstand ruht und sich die Ahnungen von tief unten ihren Weg nach oben bahnen, um uns als Träume heimzusuchen.
Die diffuse Zwischenwelt bilden die virtuosen Tänzer des Ballett am Rhein ab. Dieser exzellenten Compagnie gelingt es in der glücklichen Verbindung mit den kristallklaren Klaviersonaten von Alexander Skrjabin (wunderbar: Pianist Denys Proshayev), Seelenzustände darzustellen. Über allem prangt der Mond, dem Bühnenbildner Keso Dekkor mit multimedialer Finesse Eigenständigkeit verleiht. Martin Schläpfer hat mit „verwundert seyn — zu sehn“ einen Atlas der menschlichen Natur erstellt und die Bühne mit Bildern gefüllt, deren Ausdruckskraft lange nachhallt.
Zweites Stück des Abends taucht Tänzer in Sommerlicht
Schläpfers Ballettabende zeichnet die Vielfalt der Darbietungen aus. Auch dieses Mal hat er drei Stücke ausgewählt. Und so folgt seiner Uraufführung zunächst ein Werk aus dem Jahr 1959, das der Amerikaner Jerome Robbins kreiierte. „Moves“ ist angelegt wie eine Unterrichtsstunde im klassischen Tanz, dessen strenge Formenvorgabe die Schüler hier und da munter auseinandernehmen. Die Tänzer tragen bunte Trikots und sind in sommerliche Helligkeit getaucht. Körperlichkeit wird fokussiert, es gibt keine Musik, nur die Geräusche der Spitzenschuhe.
Nach dem kurzweiligen Ausflug in das Licht kehrt mit dem letzten Stück des Abends die Nacht zurück, wird die Expedition in die entlegenen Winkel der menschlichen Psyche fortgeführt. „Ein Wald, ein See“ hat Schläpfer 2006 choreografiert und jetzt in überarbeiteter Version erneut auf die Bühne gebracht. Von Paul Pavey kommt dazu eine musikalische Live-Performance, die vereinzelt unfreiwillig komisch wirkt. Viel Applaus.