Bilder, die Geschichte schrieben Wehrlos vor Waffen: Ikonen des Bürgerrechts-Protests
Mit dem Foto der New Yorker Krankenschwester Ieshia Evans, auf die drei hochgerüstete Polizisten losstürmen, haben die Proteste gegen weiße Polizeigewalt ihre Bild-Ikone gefunden. Das Motiv begleitet Bürgerrechtsbewegungen in aller Welt seit einem halben Jahrhundert.
Washington. Jan Rose Kasmir war 17 und hatte von Che Guevara noch nie gehört, als sie am 21. Oktober 1967 zusammen mit 100 000 Demonstranten durch Washington und vor das Pentagon zog, um gegen den Vietnam-Krieg zu demonstrieren. Dort hatte das Militär 2500 überwiegend junge Nationalgardisten in frisch gebügelten Uniformen und mit aufgepflanzten Bajonetten aufmarschieren lassen. „Jemand verteilte Blumen, und so hatte ich eine Chrysantheme in der Hand. Ich ging vor und zurück und versuchte die Soldaten zu überreden, sich uns anzuschließen“, sagte Kasmir dem „Guardian“ vor einigen Jahren.
Marc Riboud, damals schon eine Fotografen-Legende in der Agentur Magnum, sah die Szene und hielt das Foto in mehreren Varianten fest. Das Bild von dem furchtlosen Mädchen mit der Chrysantheme und den Soldaten, denen es nicht gelang, ihre Furcht, auf Zivilisten schießen zu müssen, hinter den Bajonetten zu verbergen, ging um die Welt.
Am gleichen Tag fotografierte Bernie Boston für die damalige Tageszeitung „Washington Star“ eine noch ergreifendere Szene: Ein junger Mann steckte Soldaten einer Einheit der Militärpolizei die Chrysanthemen in den Gewehrlauf. Bostons Foto wurde für den Pulitzer-Preis nominiert und bildete den Namen der Epoche ab: Flower Power — die Macht der Blumen über die Gewehre. Vor allem aber lernte US-Präsident Lyndon Johnson die Macht der Bilder über die öffentliche Meinung kennen — wie seitdem jede Regierung, die Bewaffnete gegen Bürgerrechtler aufmarschieren lässt und mit jedem Schuss an Rückhalt verliert.
Ihren vielleicht größten Sieg feierten Blumen in Gewehrläufen allerdings während der portugiesischen Nelkenrevolution im April 1974: Das Militär beendete ohne einen Schuss in 17 Stunden und 25 Minuten eine 40 Jahre währende Diktatur. Noch im gleichen Jahr stürzte das Regime der Obristen in Griechenland, ein Jahr später befreite sich Spanien von Franco.
Wehrloser Protest vor einer waffenstarrenden Staatsmacht gehört seit den 60er Jahren zur wirkmächtigsten Bild-Symbolik jeder Bürgerrechts- und Protestbewegung, von Martin Luther Kings Selma-nach-Montgomery-Märschen 1965 bis zum „Schwarzen Donnerstag“ der „Stuttgart 21“-Demonstrationen am 30. September 2010, über den die CDU Baden-Württemberg an die Grünen verlor. Der Bild-Typus des Bürgers gegen Bewaffnete, in dem der vermeintlich Wehrlose moralisch über die Waffen triumphiert, ist aber nicht nur Ikone des Protests, sondern auch des Scheiterns. Nichts steht dafür im kollektiven Gedächtnis des späten 20. Jahrhunderts so sehr wie der „Panzer-Mann“, der sich am 5. Juni 1989 als letzter Protestler während des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking einer Panzer-Kolonne in den Weg stellte.
Der Unbekannte mit den Einkaufstüten, dessen Identität und Verbleib bis heute nicht geklärt sind, griff mit seiner lebensgefährlichen Symbolhandlung ein Bild-Motiv auf, das die ganze Welt sofort verstand: Er war die Wiedergeburt von Emil Gallo, jenes verzweifelten slowakischen Installateurs, der sich am 21. August 1968 auf dem Safárik-Platz in Bratislava mit entblößter Brust den Panzern des Warschauer Pakts entgegenstellte.
Ein deutscher Student schmuggelte das Foto außer Landes, der Fotograf Ladislav Bielik blieb bis 1989 anonym. Gallo, Witwer und Vater von vier Kindern, überlebte die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, nahm sich jedoch vier Jahre später aus Verzweiflung das Leben.
Was die ikonenhaften Bilder des schwachen Protestes so wirkmächtig macht, ist auch der Umstand, dass es in der Regel ganz normale Bürger sind, die eine Übermacht mit ihrer Verletzlichkeit konfrontieren. Jan Rose Kasmir war eine normale Studentin und arbeitete später als Massage-Therapeutin. Im Mai dieses Jahres ging ein Foto der schwedischen Aktivistin Tess Asplund um die Welt, das der Fotograf David Lagerlöf in Borlänge in der schwedischen Provinz Dalarna von ihr gemacht hatte.
Die zierliche 42-Jährige (1,63 Meter, 50 Kilo) stellte sich einer rassistischen Demonstration von 300 uniformierten Anhängern der „Nordischen Widerstandsbewegung“ in den Weg, bis Polizisten sie abführten. Wie nun Ieshia Evans in Baton Rouge stand Tess Asplund einfach in der Mitte der Straße. Sie hob stumm die Faust. Als Hommage an Nelson Mandela.
Jan Rose Kasmir, Tess Asplund und nun Ieshia Evans im wehenden Sommerkleid in Baton Rouge — keine dieser Frauen, auch nicht der „Panzer-Mann“ oder Emil Gallo, waren Anführer von Bewegungen. Sie stehen und standen für sich selbst. Jan Rose Kasmir fuhr nach Washington, weil sie der Meinung war, dass die USA nichts in Vietnam verloren hatten. Tess Asplund machte sich auf den Weg von Stockholm in die Provinz, weil die Schwedin der Auffassung war, dass man doch nicht einfach zusehen könne, wie sich überall im Land Nazis in der Öffentlichkeit breitmachen. Und die 28-jährige Ieshia Evans tat es einer Freundin zufolge für ihren fünfjährigen Sohn, für seine Freiheit und sein Recht.
Die friedlichen Foto-Ikonen des Protestes zerstören die Bild-Sprache der scheinbar Überlegenen und zwingen sie, die Maske der Ruhebewahrung fallen zu lassen. Ganz normale Bürger, die noch vor einer Minute nichts von anderen unterschied, verharren plötzlich in dem Entschluss, nicht mehr zu weichen, sondern ihren Platz zu behaupten — komme, was da wolle. In unruhigen Zeiten ragen sie mit ihrer Ruhe aus der Menge hervor: Rosa Parks, die am 1. Dezember 1965 in einem Bus in Montgomery nicht für einen Weißen aufstehen wollte. Erdem Gündüz, der im Juni 2013 acht Stunden still auf dem Taksim-Platz in Istanbul stand. Bilder, die Geschichte schrieben, weil auch sie nicht mehr weichen.