Meinung CDU und CSU streiten über Flüchtlingspolitik: Merkel unter Druck
Die Kanzlerin ist nicht zu beneiden. Ihre Dauerfehde mit Horst Seehofer über die politische Ausrichtung der Flüchtlingspolitik schien leidlich befriedet. Übrigens auch deshalb, weil es zwischenzeitlich zahlreiche Gesetzesverschärfungen gab, die Merkels "Willkommenskultur" praktisch nur noch auf Spurenelemente reduziert haben.
Und weil kaum noch Flüchtlinge kommen. Doch mit der schrecklichen Bluttat in Berlin, deren nähere Umstände trotz eines neuen mutmaßlichen Tatverdächtigen immer noch weitgehend im Dunkeln liegen, ist der Konflikt zwischen den beiden Widersachern nun mit umso größerer Wucht zurückgekehrt.
Seehofer stellt die "gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik" in Frage und will sie "neu justieren". Das mag moderater klingen als die unsägliche Parole der AfD ("Es sind Merkels Tote"), aber die Stoßrichtung ist dieselbe: Die Kanzlerin und ihre Flüchtlingspolitik sind schuld, wenn es irgendwo in Deutschland knallt. Merkel ist der Sündenbock. Dass zunächst einmal immer jeder Täter selbst für seine Tat verantwortlich ist, wird geflissentlich ausgeblendet. Eine absurde "Logik": Ebenso gut könnte man dann nämlich auch Merkels Sozialpolitik dafür verantwortlich machen, wenn ein Jugendlicher aus armen Verhältnissen zum Straftäter wird.
Früher waren unsichere Zeiten häufig ein Konjunkturprogramm für die jeweilige Bundesregierung. Wer Angst und Unsicherheit verspürte, setzte lieber auf Bewährtes anstatt radikalen Kräften hinterherzurennen. Das hat sich geändert. Wenn Bundesinnenminister Thomas de Maiziere angesichts der Berliner Ereignisse zur Besonnenheit mahnt und politische Schnellschüsse ablehnt, wenn er dafür plädiert, erst einmal die Fakten auszuleuchten, dann gilt das offenbar nicht mehr nur bei der AfD als Verweichlichung. Sondern auch bei der CSU. Populär ist, was forsch daher kommt - siehe Seehofer. Doch dafür sollte sich Merkel nicht hergeben.
Sicher, die Kanzlerin hat selbst entschieden, ein viertes Mal für dieses Amt zu kandidieren. Aber eher aus Pflichtbewusstsein als aus Begeisterung. Auch die Union weiß, mit Merkel wird es angesichts ihrer umstrittenen Flüchtlingspolitik schwer. Doch ohne Merkel geht gar nichts. Vor diesem Hintergrund müssten die beiden Schwesterparteien eigentlich fest zusammenstehen, anstatt sich weiter zu zerstreiten. Innerparteilicher Zoff hat jedenfalls noch in keinem Wahlkampf für Pluspunkte gesorgt.
2017 steht nicht nur die Bundestagswahl an. Schon in der ersten Jahreshälfte wird über die Landesparlamente im Saarland sowie in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen neu abgestimmt. Die Wahlkämpfe dazu beginnen im Januar. Sollte Seehofer mit dem Konflikt nur spielen, so hat er weniger Zeit, als er denkt, um ihn wieder beizulegen. So macht er die AfD womöglich schon beim Start ins Wahljahr stark und gefährdet am Ende die gemeinsame Kanzlerschaft von CDU und CSU im Herbst.