Der Skandal ist Jauch, nicht der Stinkefinger
kommentar Das Versagen der wichtigsten Polit-Talkshow der ARD
In der Regel ist für die guten Sitten kaum etwas so förderlich wie ein handfester Skandal, der breit ausgetragen und diskutiert wird. Danach herrscht meistens Klarheit darüber, was gesellschaftlich entweder akzeptiert oder abgelehnt wird. Insofern hätte die Debatte um den gefälschten oder echten „Stinkefinger“ des griechischen Finanzministers Gianis Varoufakis durchaus das Potenzial, für das Abstellen eines empfindlichen Missstands zu sorgen — wenn sie sich dem richtigen Ziel zuwenden würde. Dieses Ziel kann freilich nicht die mediale Beschäftigung mit der Frage sein, ob ein selbstverliebter griechischer Professor auf einer komplett bedeutungslosen kroatischen Konferenz vor zwei Jahren der Bundesrepublik den Stinkefinger gezeigt hat oder nicht.
Der eigentliche Skandal ist die sonntagabendliche Unverfrorenheit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, der Nation statt einer ernsthaften, um Inhalte und Aufklärung bemühten politischen Gesprächssendung ein zunehmend unerträgliches Format wie „Günther Jauch“ vorzusetzen, dessen gleichnamiger Moderator seit Jahren Kompetenz durch Publikumsgunst ersetzt und ansonsten ein journalistischer Totalausfall ist.
Dass Jauchs Produktionsfirma i & u TV das ZDF und Jan Böhmermann nach einer reichlich offenkundigen Satire am Donnerstag ernsthaft aufforderte, Beweise für die absurd-gekonnt inszenierte Behauptung einer Stinkefinger-Fälschung zu liefern, zeigt das erschreckende Ausmaß des Jauch’schen Unverständnisses darüber, worum es eigentlich geht. Nämlich darum, dass die wichtigste politische Talkshow der ARD in der Debatte um Griechenland und den Euro an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Varoufakis verlässlich scheitert und stattdessen lieber eine Stinkefinger-Diskussion vom Zaun bricht, die im Boulevard-Stil mit den Gefühlen der Zuschauer jongliert und zum Verständnis der griechischen Krise nichts beiträgt.
Der Unwille zur seriösen Darstellung, das Schielen nach quotenträchtigen Aufregern, die ignorante Wurstigkeit des Moderators — das alles sollte schon sehr lange Anlass für eine Debatte über die Qualitäts-Standards öffentlich-rechtlicher Politikberichterstattung sein.