Kommentar Jetzt muss es mal gut sein mit der Nabelschau

Meinung | Berlin · Es war nicht verwunderlich, dass so gewaltige Verluste, wie sie die (ehemaligen) Volksparteien bei der Europawahl und bei den Landtagswahlen im Osten erlitten haben, zu Eruptionen führen mussten.

Werner Kolhoff

Foto: nn

In der CDU wurde die Eignung der neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer in Frage gestellt. AKK musste ihrer Partei vor drei Wochen die Vertrauensfrage stellen, um diese Phase zu überstehen. In der SPD hat die Krise die alte Führung unter Andrea Nahles und Olaf Scholz komplett aus den Parteiämtern gefegt. Die Genossen waren nah an einer kopflosen Flucht aus der Koalition. Das hat das neue Führungsduo aus Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken einigermaßen geschickt gelöst.

Nun sind die Parteitage beendet, der Herbst des Wundenleckens ist endlich vorbei. Jetzt muss es auch mal gut sein mit Koalitionskrisen, Personaldebatten und Nabelschau. Das Theater um Horst Seehofer im letzten Jahr eingerechnet, dauert die Lähmung schon viel zu lange. Jetzt muss den Bürgern endlich mal wieder gutes Regieren geboten werden. Diskussionen in der Koalition ja, aber sachlich. Und dann auch Gesetze und ihre Umsetzung, etwa bei der Grundrente. Und, was beide Partner bisher sträflich versäumen: Dann auch das gemeinsame Werben um Vertrauen. Denn die Gesellschaft ist durch innere wie äußere Krisen verunsichert genug.

Dafür müssen die Querschüsse der jeweiligen innerparteilichen Minderheiten endlich aufhören. In der Union die des Wirtschaftsflügels, der Jungen Union oder der Werte-Union. Auf der anderen Seite muss auch in der SPD endlich Schluss sein mit der Kampagne gegen die Große Koalition. Es gibt inzwischen zwei klare Entscheidungen bei den Sozialdemokraten: Die Mitgliederbefragung im letzten Jahr und nun eine Abstimmung auf dem Parteitag, auf dem nur 15 Delegierte für eine sofortige Beendigung des Regierungsbündnisses waren. Nun müssen die Unterlegenen endlich einmal Ruhe geben.

Die Koalition braucht jetzt einen neuen Geist nach den klärenden Gewittern in beiden Parteien. Offenheit für die Anliegen der anderen Seite und für konstruktive Kompromisse. Keine Denkverbote. Nicht in der Klima- oder Verkehrspolitik und auch nicht bei der Schwarzen Null. Und gemeinsames Verantwortungsgefühl angesichts der globalen Herausforderungen. Im nächsten Jahr stellt Deutschland die EU-Präsidentschaft, die internationale Lage ist ernst.

Die Tatsache, dass im nächsten Jahr außer in Hamburg keine Wahlen anstehen, bietet die Chance, endlich in einen solchen konstruktiven Arbeitsmodus umzuschalten. Mit der regulären Bundestagswahl und zahlreichen wichtigen Landtagswahlen sieht es 2021 dann ohnehin schon wieder anders aus. Dann mag man sich wieder streiten. Innerhalb der Parteien und gegeneinander. Das gehört zum normalen Kreislauf der Demokratie. Der bisherige Regierungsstil jedoch nicht.