Meinung Wie die Steuerschätzung die GroKo ins Wanken bringt
Meinung | Berlin · Der Staat nimmt absehbar weniger Geld ein, und schon herrscht in der Großen Koalition so etwas wie verkehrte Welt. Ein Kommentar.
Der Staat nimmt absehbar weniger Geld ein, und schon herrscht in der Großen Koalition so etwas wie verkehrte Welt: Aus der Union, die eigentlich immer auf massive Steuersenkungen pochte, kommen plötzlich auch mahnende Stimmen, das dafür kein Spielraum vorhanden sei. Und in der SPD, die Entlastungen für Unternehmen immer irgendwie für überflüssig hielt, ist mancher nun der gegenteiligen Auffassung. Die jüngste Steuerschätzung bringt alte Gewissheiten ins Wanken. Schwarz-Rot, so scheint es, wurde von den neuesten Zahlenkolonnen kalt erwischt.
Dabei hätte es jeder längst wissen können. Wenn die Bundesregierung ihre eigenen Wachstumsprognosen gleich zwei Mal in Folge nach unten korrigiert – im Januar und zuletzt noch einmal Mitte April – dann muss das unweigerlich Auswirkungen auf die zu erwartenden Einnahmen haben. Denn die aktuelle Vorhersage basiert ja genau auf eben diesen Korrekturen. So kommt es übrigens auch, dass manche „düstere Zahl“ schon zu einem Zeitpunkt die Schlagzeilen beherrschte, da die Steuerschätzer in Kiel noch nicht einmal die Laptops für ihre mehrtägige Rechenarbeit aufgeklappt hatten.
Allerdings ist es nicht so, dass die staatlichen Einnahmen zurückgehen. Sie steigen nur nicht mehr ganz so stark an wie noch im vergangenen Herbst erwartet. Der Bund ist davon besonders betroffen, auch weil die Länder und Kommunen im Zuge einer Neuregelung der föderalen Finanzbeziehungen ab 2020 zu seinen Lasten ein größeres Stück vom allgemeinen Steuerkuchen abbekommen werden.
An weiteren Ausgabenwünschen und Ideen, die Einnahmeverluste produzieren, herrscht in Berlin trotzdem kein Mangel. Mehr Milliarden für Verteidigung, Gebäudesanierung und E-Mobilität, Grundrente für Niedriglöhner, komplette Soli-Streichung bis hin zu einer Unternehmenssteuerreform - für nahezu alles kann man in der GroKo gegenwärtig Fürsprecher finden. Und Gegner natürlich auch.
Union und SPD müssen deshalb endlich Prioritäten setzen. Die Oberste: Angesichts einer abflauenden Konjunktur muss die Wirtschaft gestärkt und der private Konsum weiter stimuliert werden. Was ist dafür sinnvoll und was nicht? Das muss die Leitfrage sein. Kann man es sich wirklich leisten, dass deutsche Unternehmen bei der Besteuerung international immer stärker das Nachsehen haben? Wäre es wirklich sozial gerecht, eine milliardenschwere Grundrente ohne Bedarfsprüfung ins Gesetz zu schreiben? Und warum den Solidaritätszuschlag eigentlich erst 2021 reduzieren und nicht schon deutlich eher?
Man hätte sich gewünscht, dass Kassenwart Scholz am Donnerstag nicht allein vor die Kameras gegangen wäre, um die neue Steuerschätzung zu erläutern und Schlüsse daraus zu ziehen, sondern gemeinsam mit seinen Kollegen Altmaier und Heil vom Wirtschafts- und Sozialressort. Vielleicht sogar angeführt von der Kanzlerin. Es wäre ein Symbol dafür gewesen, dass SPD und Union die Wachstumsflaute gemeinsam bewältigen wollen. Zu befürchten ist, dass die schwindende Kraft dieser GroKo dafür nicht mehr reicht.