Wölfe kommen wieder häufiger nach NRW – auf der Durchreise, aber zunehmend auch dauerhaft Berechtigte Angst oder „Rotkäppchen-Märchen“?
DÜSSELDORF · . Die zunehmende Zahl von Wölfen sorgt in Nordrhein-Westfalen für emotionale Diskussionen. Bauernverbandsvertreter und Weidetierhalter fordern den Abschuss von Tieren, die sich durch Schutzzäune und Hütehunde dauerhaft nicht abschrecken lassen und immer wieder Schafe und Kälber reißen.
Das richtet sich vor allem gegen die Wölfin mit dem Namenskürzel GW965f. Das Tier, inoffiziell „Gloria“ genannt, lebt in Schermbeck (Kreis Wesel) mit einem Rüden zusammen, hat schon zahlreiche Weidetiere getötet und jetzt offenbar Nachwuchs bekommen.
„Solche auffälligen Wölfe müssen jetzt entnommen werden“, forderte der Präsident des Rheinischen Landwirtschafts-Verbandes (RLV), Bernhard Conzen, nach der Nachricht von dem Wolfsnachwuchs kurz vor Weihnachten. „Gloria“ habe offensichtlich ihre natürliche Scheu verloren und werde das womöglich an ihre Jungen weitergeben. „Irgendwann passiert es und sie greift auch Menschen an“, sagte Conzen.
Umweltschutzorganisationen wie der BUND kritisieren Abschussforderungen dagegen als „blanken Populismus“ und betonen, dass Wölfe nach allen Erkenntnissen Menschen gegenüber scheu seien. Vorbeugende Schutzmaßnahmen gegen Tierrisse wie höhere Zäune würden voll vom Land übernommen. Sogenannte Entnahmen der streng geschützten Wölfe sind in Deutschland nur als allerletztes Mittel erlaubt. „Die wenigen Wildtiere, die wir haben, sollte sich unsere Gesellschaft leisten können“, sagte die NABU-NRW-Sprecherin Birgit Königs.
Ein Schafhalter aus der Region klagt bereits vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf gegen den Kreis Wesel, weil der einen Abschuss von „Gloria“ abgelehnt hatte. „Insgesamt 78 getötete oder verletzte Schafe sowie 14 Stück Damwild gehen nachweislich auf das Konto der Wölfin“, sagt Conzen.
Das Gahlener Bürgerforum, das sich im Schermbecker Wolfsgebiet gebildet hat, spricht sogar von mehr als 140 Weidetierrissen durch „Gloria“. Die Wölfin springe und klettere sogar an 1,90 Meter hohen Zäunen hoch und überwinde Elektrozäune. „Ist ja auch bequemer als im Wald Rehe und Hirsche zu jagen“, sagt der Bottroper Bauer Bernhard Steinmann (67), der Mitglied im Bürgerforum ist. Durch die zunehmende Rationalisierung in der Landwirtschaft gebe es nicht mehr viel Weidetierhaltung, oft seien es Hobbyhalter. Wenn der Wolfsbedrohung nicht entgegengewirkt werde, würden diese Hobbyhalter bald aufgeben, fürchtet Steinmann.
Bis zum Jahresende 2020 (Stand 16. Dezember) gab es NRW-weit nach Angaben des Landesumweltamtes 81 Wolfsnachweise – nach 51 Nachweisen 2019 und 36 Nachweisen 2018. Als Wolfsnachweise gelten unter anderem Fotos oder Videos, Kot- und Urinspuren oder Risse von Wild- und Nutztieren, meist mit DNA-Spuren der Wölfe.
Die Entwicklung verlaufe damit insgesamt „weiterhin dynamisch“, erklärte ein Sprecher des Landesumweltamtes. Kurz vor Weihnachten kam nun noch der Bildnachweis des Wolfswelpen im Weseler Gebiet über eine aufgestellte Kamera hinzu.
Neben dem Wolfsgebiet in Schermbeck mit „Gloria“ gibt es drei weitere ausgewiesene Wolfsgebiete in NRW: im Rhein-Sieg-Kreis und daneben in der Senne bei Bielefeld und der Nordeifel an der Grenze zu Belgien, wo jeweils Einzeltiere leben, von denen aber schon länger kein Nachweis mehr registriert wurde. Im Rhein-Sieg-Kreis bekamen Wölfe im Juli 2020 auch erstmals in NRW nachweislich Junge. Auf einem im Oberbergischen Land östlich von Bonn aufgenommenen Video wurden zwei Welpen identifiziert.
Den Streit um „Gloria“ heizte ein Video aus dem Schermbecker Wolfsgebiet von Ostern 2020 an: Darauf ist zu sehen, wie in der Nähe von Hünxe zwei Wölfe einen Rothirsch jagen. Der Hirsch konnte den Angriff nur mühsam abwehren und im Wald verschwinden. Ende Oktober 2020 wurde auf einer Weide in Bottrop ein 28 Jahre altes, kleines Shetlandpony nachweislich von einem Wolf getötet. Das Gahlener Bürgerforum führt eine „Wolfskarte“, auf der solche Attacken auf Tiere minuziös mit Fotos dokumentiert sind.
Das Lanuv sah sich angesichts zahlreicher Bürgerzuschriften zu der Feststellung veranlasst, dass der Schutz der Bevölkerung absolute Priorität habe. Es habe seit der Rückkehr einzelner Wölfe aus dem östlichen Europa nach Deutschland in zwei Jahrzehnten keinen einzigen Fall eines Angriffs auf Menschen gegeben.
Der BUND-Landesvorsitzende, Holger Sticht, sprach von „Rotkäppchen-Märchen, die uns in die Gehirne gebrannt wurden“. Es gebe einen Konflikt mit Weidetierhaltern - „ansonsten ist der Wolf ungefährlich“, betonte der Naturschützer. In NRW waren Wölfe erstmals wieder 2009 aufgetaucht.
Die steigenden Nachweis-Zahlen spiegelten auch, dass Tiere auf der Suche nach einem Revier zunehmend durch Nordrhein-Westfalen zögen, sagte der Lanuv-Sprecher. Im Frühjahr 2020 war im Rheinisch-Bergischen Kreis mittels DNA-Tests erstmals sogar ein Wolf aus der Alpenregion nachgewiesen worden. Im Dezember gab es in Viersen einen zweiten DNA-Nachweis für einen Alpenwolf, der am Niederrhein ein Schaf gerissen hatte.
BUND-Landeschef Sticht ist trotz aller Debatten fest überzeugt, dass Abschüsse ein Fehler wären. „Das muss man der Natur überlassen“, sagte er. Angesichts der Bedrohung durch Wölfe würden Rehe und Hirsche sich im Wald wieder stärker bewegen und nicht mehr lange an einer Stelle verharren. Damit gehe auch der von Forstwirten immer wieder beklagte Verbiss an jungen Bäumen zurück.