„Wir sind jetzt an einem Kipppunkt“ NRW-Bürgermeister schreiben Brandbrief an Scholz und Wüst – und bekommen keine Antwort

Düsseldorf · Unter anderem Bürgermeister aus Duisburg, Krefeld, Mönchengladbach und Solingen haben sich mit einem Brandbrief an den Bundeskanzler und den NRW-Ministerpräsidenten gewandt. Doch bis heute gab es keine Antwort. Dabei geht es ihnen um drängende Probleme.

Blick in ein Vier-Bett-Zimmer in einer Unterbringungseinrichtung für Asylsuchende in einem ehemaligen Hotel.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Zahlreiche Oberbürgermeister aus Kommunen in Nordrhein-Westfalen fordern von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) ein sofortiges Umsteuern in wichtigen kommunalen Fragen. „Wir sind jetzt an einem Kipppunkt“, sagt Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) und meint die Akzeptanz von Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen, wenn es etwa um die schlechte Situation in den Kindertagesstätten oder in Schulen geht. Auch Planungen zum ab 2026 verpflichtend anzubietenden Offenen Ganztag oder die Folgen des enormen Zuzugs an Geflüchteten stellen die Kommunen vor große Aufgaben.

Link wird in seinem Hilferuf unterstützt von zwölf weiteren Oberbürgermeistern und einem Landrat, darunter Frank Meyer (SPD) aus Krefeld, Tim Kurzbach (SPD) aus Solingen und Felix Heinrichs (SPD) aus Mönchengladbach. Zusammen hatten die Kommunalpolitiker bereits im Oktober vergangenen Jahres Briefe an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) geschrieben, bis heute – ein Vierteljahr später – aber keinerlei Antwort erhalten. „Wir möchten jetzt überhaupt erst einmal gehört werden“, sagt Kurzbach. „Seit Oktober gibt es keine substanzielle Antwort“, so Link in einer Schalte am Montagabend, in der die Oberbürgermeister ihre Forderungen erneuerten.

„Wir können mehr, wenn wir unterstützt werden“, sagt Link. Diese Unterstützung fehle den Kommunen aber gänzlich. Ihr Wort werde weder in Berlin noch in Düsseldorf gehört. Das macht auch Kurzbach aus Solingen beim Thema Kindertagesstätten deutlich. „Das System bricht, es kann nicht einfach so weiterlaufen. Von den oberen Ebenen kommt kaum Hilfe, eher mehr Belastung.“ Durch die Zuwanderung der Geflüchteten aus der Ukraine seien alle Systeme maximal überfordert. „In Solingen sind 900 Kinder neu ins System gekommen“, sagt Kurzbach. Das sei nicht zu stemmen und schlicht nicht ausreichend finanziert. „Wir als Stadt müssen die Träger an allen Ecken und Enden unterstützen.“ Personalkostensteigerungen, bauliche Standards und baurechtliche Auflagen, dazu Zinssteigerungen – das lasse das System platzen. „Wir brauchen pragmatische Lösungen, müssen auch runter mit Standards, die sich in diesem Land noch nie gesenkt haben“, sagt Kurzbach, der in Solingen gerade zusätzliche Spielgruppen einrichtet. Dabei, so hieß es im Kreis der OB, seien doch gerade Kita und Schule Bereiche, in denen sich zeigen lasse bei aller Kritik an Politik, dass der Staat handlungsfähig sei.

Der Mönchengladbacher OB Felix Heinrichs betrachtet staunend das Problem „Offener Ganztag“. „Wir werden alleine gelassen. Der Bundestag führt ein Gesetz ein, und das Land macht kein Ausführungsgesetz. Das ist wie: kein Anschluss unter dieser Nummer. Alle wollen das eigentlich, aber wir müssen im luftleeren Raum agieren. Bei der Kitagesetzgebung ist es das gleiche“, sagt Heinrichs und vermutet folgenden Hintergrund: „Sobald das Land die Standards definiert, muss es die Kommunen kofinanzieren.“

Der Hagener Oberbürgermeister Erik Schulz (parteilos) kritisiert, man sei bei Schulen weder pädagogisch, baulich noch digital auf Stand. „Und ganz ehrlich sind wir nicht einmal in der Lage, die Schulen ausreichend sauber zu halten.“ Hagen sei finanzschwach, er sei es aber leid, sich dafür rechtfertigen zu müssen. Das nämlich sei keine Frage von Verschwendung, sondern von Bevölkerungsstruktur und anderen Parametern, auf die Städte keinen Einfluss hätten.

Schulz nennt ein Beispiel: „Wenn es bei uns um Gebäudeunterhaltung geht, heißt das nur noch ,ausfallorientierte Instandhaltung‘.“ In Hagen seien die Kinder unter zehn Jahre zu 70 Prozent Kinder mit Zuwanderungsgeschichte. Das verstärke den Bedarf an Betreuung. Für 4500 Kinder stünden 600 Fachkräfte zur Verfügung. „Wenn wir nicht ausreichende Finanzmittel für unsere Aufgaben haben, wird es schwierig, die Debatten mit der Bevölkerung auszuhalten“, meint Schulz.

Frank Dudda (SPD), OB in Herne, kann derweil nicht fassen, dass man heute auf neue Herausforderungen noch immer mit Politik-Rezepten aus alten Zeiten reagiere. Er bezeichnet das als „Beharrungssystem bis zur Arroganz“ und fragt: „Wo ist der Sonderfonds Kita und Schulneubau? Wofür haben wir denn in NRW eine NRW Bank?“ Er finanziere beispielsweise über die Stadt zahlreiche Sprachkurse für Kinder von Migranten. „Das geht nicht. Und wenn die Kinder in der 3. Klasse kein Deutsch sprechen, müssen sie raus aus dem System.“ Dass Lehrer sich noch immer schulscharf bewerben könnten, hält Dudda für einen Skandal. Die müssten als Beamte dorthin, wo die Not am größten sei.

Bereits in dem Brief aus Oktober 2023 visierten die OB deutliche Verbesserungen in der Bauwirtschaft an, plädierten für ein Schul- und Kitaprogramm, für strukturelle energetische Sanierungen in den Kommunen mitsamt neuer Wärmeplanung und für echte Fortschritte auf dem Mobilitätssektor. Dazu mahnen sie auch heute noch eine Altschuldenlösung für die vielen klammen NRW-Kommunen an und wollen durch durchdringende Entbürokratisierung zu Ergebnissen kommen, die mit mehr Investition von Geld mal nichts zu tun haben. Tenor: „Wir sind bereit, antizyklisch zu agieren.“ Sören Link sagt es so: „Wir wollen mal vor die Lage kommen.“

Aus der Düsseldorfer Staatskanzlei heißt es zu den Forderungen der OB, die Landesregierung befinde sich in einem „fortlaufenden Austausch mit den kommunalen Spitzenverbänden“. Und: „Mit Zwischennachricht vom 14. November 2023 wurden die Unterzeichner aufgrund der umfangreichen in dem Brief angesprochenen Themen um Verständnis gebeten, dass eine ausführliche Antwort erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen kann.“

Eine Regierungssprecherin in Berlin sagte auf Anfrage, offene Briefe würden grundsätzlich nicht kommentiert: „Sie dürfen jedoch versichert sein, dass der Bundeskanzler den an ihn gerichteten Meinungs- und Willensäußerungen große Aufmerksamkeit widmet.“ Zudem habe der Kanzler wiederholt betont, dass in Deutschland dringend Bürokratie abgebaut werden müsse. Das sei ein zentrales Anliegen der Bundesregierung.