Burscheid Mit brennendem Herzen in den Wettkampf

Besser hätte der Auftritt des OVH beim Orchesterwettbewerb nicht gelingen können. Egal wie die Jury heute entscheidet, die halbe Stunde von Ulm war für die Blasmusiker und ihren Dirigenten ein Triumph.

Foto: Ekkehard Rüger

Ulm/Burscheid. Es ist Sonntagabend gegen 21.30 Uhr, als Timor Chadik seine Kabinenansprache hält. Die Kabine, das ist der Probensaal des Heeresmusikkorps Ulm in der Wilhelmsburgkaserne. Gerade hat es den abschließenden Durchlauf des Wettbewerbsprogramms für den Deutschen Orchesterwettbewerb gegeben. Jetzt gilt es, die 78 Musiker des Orchestervereins Hilgen (OVH) in die letzte Nacht vor dem entscheidenden Auftritt zu entlassen.

„Wir haben einen sehr guten Stand“, sagt der Dirigent. „Es wird Zeit, dass wir auf die Bühne gehen.“ Er spricht von einem Programm, „das einzigartig ist“, und von der Gewissheit, „dass wir eine gute Show abliefern“. Und er schließt mit einem „großen Kompliment an alle“. Das Orchester sei gut auf den Punkt gekommen. Applaus brandet auf. Die Musiker empfinden das auch so.

Eine Punktlandung ist es in der Tat. Kaum einer hier, der nicht überzeugt ist, dass die drei Proben in Ulm am Samstag und Sonntag noch wirklich nötig waren. Chadik, hauptberuflich Bandleader der Big Band der Bundeswehr, hatte sich im Vorfeld um diese Möglichkeit zum letzten Feinschliff bemüht. Erst hier fügt sich das Puzzle der ungewöhnlich vielen Einzel- und Registerproben endgültig zu einem großen Ganzen zusammen. Und alle brennen jetzt darauf, das Ergebnis der fünfköpfigen Jury zu präsentieren.

Es gibt Mitbewerber, die anders arbeiten. Die Stadtkapelle Wangen im Allgäu beispielsweise, Titelverteidiger und den Hilgenern kollegial verbunden, hat sich den nach einhelliger Meinung musikalisch starken Wettbewerbsauftritt vom Sonntagnachmittag durch intensive und langfristige Aufführungspraxis erarbeitet. Aber das wäre mit dem experimentierfreudigen und auf immer wieder neue Erfahrungen erpichten OVH nicht zu machen. „Dann würde die Mannschaft rebellieren“, ist Vorsitzender Martin Mudlaff überzeugt.

Doch von Rebellion ist der OVH in diesen Tagen weit entfernt. Im Gegenteil: Am nächsten Tag um 12 Uhr steigt eine zusammengewachsene musikalische Einheit in den Bus vor dem Hotel und bricht von Baden-Württemberg nach Bayern auf. Das Edwin-Scharff-Haus, in dem die Wertungsspiele der Kategorie B.1 Blasorchester angesetzt sind, liegt in Neu-Ulm auf der anderen Seite der Donau, die hier auch die Landesgrenze markiert.

Es zählt zu den Wunderwerken der Musik, wie sich ein Haufen angespannt witzelnder Musiker, die auf unterschiedliche Art versuchen, ihr Nervenkostüm zu bändigen, und vor dem Konzertsaal die Zeit bis zur Freigabe der Bühne totschlagen, wenig später zu einem Orchester vereinen kann, das sich in den Wettbewerb wirft, als gäbe es kein Morgen mehr.

Wenn man begreifen will, was sich an diesem frühen Montagnachmittag auf der Bühne abspielt, kommt man an Timor Chadik nicht vorbei. Seine Art, zu dirigieren, ist einerseits weich, von tänzerischer Emotionalität und dabei doch unbeugsam präzise. So hält er das Orchester und das Publikum gleichermaßen in seinem Bann. Schon bei den vier Sätzen des eher ungeliebten Pflichtstücks „Suite voor Harmonieorkest“ von Bob Vos ist spürbar: Heute passt kein Blatt Papier zwischen Chadik und den OVH. Gemeinsam wringen sie das Werk aus und holen sein Bestes dabei hervor.

Bei der Uraufführung von Claudio Puntins „Mondnah und Herzfremd“ ist das Orchester dann endgültig bei sich angekommen. Es erzählt fast traumwandlerisch und selbstvergessen eine Geschichte: von Nähe und Ferne, vom Auseinanderdriften der Klänge und ihrem Zusammenführen, von aufschäumenden Rhythmen und ihrer mühsamen Beruhigung. Die Widersprüche des Lebens, die Dramen von Flucht und ihren Folgen, sie finden in der bewegenden Komposition ihren musikalischen Ausdruck. Dass der OVH damit nicht in die Sonderwertung „Zeitgenössische Musik“ Einzug halten kann wie noch vor vier Jahren mit Johannes Sterts „Bachseits“ in Hildesheim, ist seiner ausdrücklichen Erklärung geschuldet, darauf verzichten zu wollen.

Aber die Dramaturgie des Wettbewerbsbeitrags ist noch nicht ausgereizt: Sie mündet im eruptiven Finale von Florent Schmitts „Dionysiaques“. Hier wird Chadik zum Dompteur musikalischer Urgewalten und virtuos wechselnder Klangfarben, die das Wettbewerbspublikum jubelnd von den Sitzen reißen und die Musiker mit dem beglückenden Gefühl von der Bühne entlassen, dass mehr an diesem Tag nicht möglich war. Aufgewühlt selige Gesichtsausdrücke sind in der Garderobe anschließend in Serie auszumachen.

Als der OVH vor vier Jahren den Titel knapp verpasste, nagte das Gefühl eines nicht optimal gelungenen Wertungsbeitrags an den Musikern. Diesmal können sie ganz mit sich im Reinen sein, wenn sie heute Mittag um 11.30 Uhr die Entscheidung der Jury erfahren. Sie haben mehr als eine gute Show abgeliefert: Sie haben ihre brennenden Herzen verschenkt.