„Bis an die Zähne bewaffnet“ Neue Corona-Variante B.1.1.529: Das ist bekannt - und das nicht
In Südafrika entdecken Virologen eine neue Variante des Coronavirus. Experten sind beunruhigt. Doch was ist bislang bekannt - und wie wird die Entwicklung in NRW gesehen? Fragen und Antworten.
Die Corona-Lage ist in Deutschland und vielen anderen Ländern ohnehin kritisch - die Zahl der Neuinfektionen steigt, die Kliniken laufen voll und der Winter hat noch nicht einmal begonnen. Nun taucht in Südafrika eine neue Variante des Sars-CoV-2-Erregers auf, die Experten beunruhigt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stufte die neue Corona-Variante B.1.1.529 am Freitag als „besorgniserregend“ ein. Wird jetzt alles noch schlimmer?
Was ist bislang über B.1.1.529 bekannt?
Die zuerst in Südafrika entdeckte Variante B.1.1.529 hat Mutationen an mehreren entscheidenden Stellen des Virus. Sie betreffen zum einen das Spike-Protein, über das die Viren an menschliche Zellen andocken. Gegen das Spike-Protein bildet der Körper bei einer Ansteckung mit dem Virus Antikörper. Auch viele der Impfstoffe regen das Immunsystem zur Bildung von Antikörpern gegen dieses Protein an.
Darüber hinaus hat B.1.1.529 Mutationen in der Nähe der sogenannten FurinCleavage Site, einer Region, die eine Rolle bei der Aufnahme des Virus in menschliche Zellen spielt. Zwischenformen zwischen der neuen Variante und den von Anfang 2020 bekannten Varianten seien bisher nicht beobachtet worden. „Die Variante kam also unerwartet und scheint sich jetzt im Süden Afrikas rasch auszubreiten“, sagt Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel (Schweiz). In Deutschland ist die Variante laut Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), bislang nicht nachgewiesen. In Belgien ist ein erster Fall bekannt, wie der belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke am Freitag bekannt gab.
Wie groß ist die Besorgnis bei Experten?
„Das Ding ist bis an die Zähne bewaffnet“, sagt Friedemann Weber, Leiter des Instituts für Virologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Das Virus bringe einen „Riesen-Strauß an Mutationen mit sich“, allein mehr als 30 seien im Spike-Protein. Von einigen der festgestellten Mutationen sei bereits bekannt, dass sie die Wirkung von Antikörpern abschwächen. Allerdings sei es zu früh, um Aussagen über den weiteren Verlauf zu machen, betont Weber. „Es ist durchaus denkbar, dass die Variante wieder verschwindet.“
Auch der Berliner Virologe Christian Drosten sieht noch viele offene Fragen. So sei unklar, ob die Variante tatsächlich ansteckender ist oder ob ein anderer Faktor Grund für die momentan beobachtete Ausbreitung ist. „Für eine veränderte Krankheitsschwere gibt es derzeit keine Hinweise“, teilte Drosten am Freitag der Deutschen Presse-Agentur mit.
Die Variante verdiene auf jeden Fall besondere Aufmerksamkeit, sind sich Experten einig. Aufgrund der festgestellten Mutationen sei es durchaus vorstellbar, dass die Variante sowohl sehr übertragbar sei, als auch Teilen der Immunantwort entkomme, sagt Neher.
„Sie hat keine Mutationen, die wir nicht schon kennen, aber die Kombination der Mutationen kennen wir bisher nicht“, sagt auch Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI). „Wie diese Kombination wirkt, muss man jetzt untersuchen.“ Aussagen über den Einfluss der Variante auf den Krankheitsverlauf sind derzeit nicht möglich. „Dazu haben wir momentan einfach zu wenige Fälle.“
„Wir sind tatsächlich in sehr großer Sorge“, sagte RKI-Chef Wieler am Freitag in Berlin. Es müsse noch untersucht werden, ob die steigenden Fallzahlen in Südafrika wirklich mit diesem Virustyp zusammenhängen. Er hoffe sehr, dass die Ausbreitung der Variante stringent durch Reisebeschränkungen begrenzt werde.
Besteht die Gefahr, dass die Impfungen nicht mehr wirken?
„Da die Impfstoffe gegen alle bisherigen Varianten effizient sind, gehe ich davon aus, dass auch gegen diese Variante Impfschutz besteht“, sagt Neher. „Allerdings ist es durchaus vorstellbar, dass es vermehrt zu Durchbruchsinfektionen kommt, so dass eine dritte Dosis umso wichtiger wird.“ Auch Immunologe Watzl geht nicht davon aus, dass die Impfung sich als nutzlos erweist. „Es kann sein, dass die Schutzwirkung abnimmt, aber wir sind nicht schutzlos.“
Der Mainzer Impfstoffhersteller Biontech hat als Reaktion auf das Bekanntwerden der Variante neue Untersuchungen gestartet. Die Daten aus nun laufenden Labortests würden Aufschluss geben, ob eine Anpassung des Impfstoffs erforderlich werde, wenn sich diese Variante international verbreite. Man rechne spätestens in zwei Wochen mit Erkenntnissen.
Laut Virologe Weber könnten vor allem die vorhandenen Antikörper-Therapien durch die neue Variante beeinträchtigt werden. Bei dieser Behandlung bekommen Patienten mit hohem Risiko für einen schweren Verlauf möglichst rasch nach der Infektion einen Antikörper-Cocktail verabreicht. Anders als die Impfstoffe zielen die Antikörper nur gegen einige wenige Merkmale des Spike-Proteins auf der Virusoberfläche. Sie verlieren also ihre Wirkung, wenn sich genau dieses Merkmal verändert.
Wie verbreiten sich Varianten überhaupt über Länder hinweg?
Der Flugverkehr und Reisen insgesamt sind die wesentlichen Verbreitungswege für Viren. Sie können so innerhalb von Stunden von einem Land ins andere, sogar von einem Kontinent zum nächsten gelangen und, einmal dort angekommen, neue Infektionsketten starten. Die Beschränkung des Flugverkehrs zählt deshalb zu den Maßnahmen, die bei Auftauchen einer als bedrohlich eingestuften Virusvariante getroffen werden können - so wie es auch jetzt bei der neu entdeckten Variante gemacht wird. Aber: „Wir werden die Varianten nicht aus Europa raushalten können, wir können aber wertvolle Zeit gewinnen, um an bessere Daten über das Virus zu kommen“, sagt Watzl.
Die WHO hat sich vorerst gegen Reisebeschränkungen ausgesprochen. Sprecher Christian Lindmeier sagte am Freitag in Genf, Staaten könnten auch ohne solche Einschränkungen eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um die Ausbreitung von neuen Varianten einzudämmen. Dazu gehörten die genaue Beobachtung des Infektionsgeschehens und die Genanalyse von auftretenden Corona-Fällen.
Was ist Experten zufolge jetzt zu tun?
Ziel müsse es sein, den Eintrag dieser Variante so weit wie möglich zu vermeiden, sagte der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitag in Berlin. „Das ist das Letzte, was wir jetzt in unserer momentanen Lage noch brauchen können, dass in die Welle hinein noch eine zusätzliche Variante kommt.“ Spahn forderte alle Menschen, die in den vergangenen Tagen aus Südafrika und der Region nach Deutschland gekommen sind, dazu auf, sich mit einem PCR-Test sicherheitshalber auf das Virus testen zu lassen.
Zusätzlich zu den Reisebeschränkungen müsse die Erforschung der Virusvariante nun vorangetrieben werden, sagt DGfI-GeneralsekretärWatzl. Über Laboruntersuchungen sei feststellbar, ob sich die Immunantwort auf den neuen Virustyp verändert hat. In zwei bis drei Wochen könne man mit ersten Ergebnissen rechnen. Erst später werde sich über größere Studien in der Bevölkerung herausstellen, ob die Variante ansteckender sei als andere und ob sie den Krankheitsverlauf beeinflusse.
Ist es Zufall, dass die Variante in Südafrika nachgewiesen wurde?
Ob die Variante in Südafrika ihren Ursprung hat, ist derzeit ungewiss. Denkbar ist auch, dass sie aus anderen Ländern nach Südafrika gekommen ist und dort nur erstmals erkannt wurde. Der Kap-Staat verfügt über gute Virologen, die stutzig wurden, als die täglichen Infektionsraten im Land innerhalb weniger Tage von einigen hundert Fällen auf mehr als 2000 hochschnellten. Betroffen ist vor allem der Großraum um die Millionenmetropole Johannesburg und die Hauptstadt Pretoria. Diese „Gauteng-Provinz“ ist die wirtschaftliche Kernregion des Landes und stellt etwa 80 Prozent der täglichen Neuinfektionen landesweit. Eine Häufung der Fälle wurde auf dem Campusgelände einer Universität in Pretoria ausgemacht.
Wie wird die Lage in NRW gesehen?
In NRW gibt es noch keine Erkenntnisse über Fälle der neuen Coronavariante B.1.1.529. Das erklärte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums unserer Redaktion am Freitagnachmittag. Es gelte, die in Südafrika entdeckte Variante möglichst fernzuhalten, hatte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) dem "Kölner Stadt-Anzeiger" erklärt. Wer aus Südafrika vor Kurzem eingereist sei, solle sich "zügig" testen lassen.
Der erste Fall der Variante in Europa wurde am Freitag aus dem benachbarten Belgien gemeldet.