Ringen um Migrationsbeschlüsse Der NRW-Ministerpräsident und die Doppelbluff-Strategie der CDU

Analyse | BERLIN/DÜSSELDORF · Mancher rieb sich verwundert die Augen: Bund und Länder haben sich bis tief in die Nacht geeinigt. Doch nur wenige Stunden später kennzeichnen NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und CDU-Fraktionschef Friedrich Merz die Migrationsbeschlüsse als völlig unzureichend. Eine Analyse.

Die SPD spricht von einem „Durchbruch“, CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst nennt die Ergebnisse unzureichend.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Mancher rieb sich verwundert die Augen. Da waren bis 2.30 Uhr in der Nacht auf den Dienstag alle Kompromisse zwischen Bund und Länderchefs geeint und im Papier festgehalten worden, da trat nur wenige Stunden später NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) mit Fraktionschef Friedrich Merz in der NRW-Landesvertretung an der Berliner Hiroshimastraße vor die Presse und kennzeichnete die Migrationsbeschlüsse als völlig unzureichend. „Das ist kein befriedigendes Ergebnis, sondern ein erster Schritt“, sagte Wüst und sprach, als hätte es die Nacht nicht gegeben. „Wir müssen zu beherzten Maßnahmen kommen. Den Rahmen darf nicht bestimmen, was in der Ampel gerade noch so möglich ist, sondern was nötig ist.“

Merz: Gesetzgebung
des Bundes entscheidend

Offenbar war innerhalb der CDU eine Art Doppelbluff-Strategie für das Bund-Länder-Treffen ausgearbeitet worden: Zuerst verwirrte man am Montagnachmittag die A-Länder (SPD regierte Länder) mit bis dahin nicht abgestimmten neuen Forderungen zur Begrenzung irregulärer Migration, die Wüst als „nicht wesentlich neu“ abtat. „Nur für das Papier waren sie neu.“ Dann verurteilte man am Tag danach die Ergebnisse, obwohl durchaus neue Forderungen Eingang in das Beschlusspapier gefunden hatten. Und als wäre das nicht genug, rundete Merz das Ganze ab, indem er nach seinem lange geplanten Treffen mit der in Berlin zur Klausur weilenden CDU-NRW-Fraktion offen hielt, ob die CDU-Fraktion dem Ganzen dann nun auch über künftige Gesetze im Bundestag zustimmen werde. „Das kann erst wirksam werden, wenn die entsprechende Gesetzgebung des Bundes gemacht worden ist“, sagte Merz in fröhlicher Abgrenzung zur MPK – und forderte schnell noch einen überaus ambitionierten Zeitplan ein: Bis zum 1. Januar 2024 müsse dazu geltendes Recht geschaffen und vorher die letzte Sitzung des Bundesrates am 15. Dezember erreicht werden.

Dass sich Wüst mit dieser Bewertungs-Pointe nicht der Empörung seines grünen Koalitionspartners in NRW sicher sein musste, war wohl abgesichert, als die Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang und Baden Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor Tagen ein Positionspapier zur Begrenzung von Flüchtlingszahlen verfasst hatten (Wüst: „Ein Papier, das ich ihnen vor Monaten nicht zugetraut hätte“) – drei Wochen vor dem Grünen-Bundesparteitag. Womöglich empfand Wüst das als Freifahrtschein: In der Berliner Nacht tat er sich dem Vernehmen nach als Chefverhandler für CDU-Positionen hervor. Gegen einen Kanzler, der nach kolportierten Eindrücken aus der CDU die Konferenz nicht einen, sondern gegeneinander ausspielen wollte.

Verena Schäffer, Grünen-Fraktionsvorsitzende in NRW, mahnte am Tag danach aus Düsseldorf „keinen weiteren Überbietungswettbewerb von Scheinlösungen“ an. Die Leistungskürzungen für Asylbewerber sehe sie „vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums kritisch“. Geflüchteten würde die Integration erschwert, wenn ihnen das Geld zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fehle. Und: Asylverfahren in Drittstaaten halte sie weder „für rechtlich noch praktisch absehbar“. Mindestens diese Thesen dürften in der NRW-Koalition noch zu besprechen sein.

Während SPD-Oppositionsführer Jochen Ott in Düsseldorf die Einigung als „Durchbruch“ in der Migrationsfrage bezeichnete und sich ob des nachträglichen „Gefeilsches“ der Konservativen ereiferte, weil die „Demokratie jetzt parteiübergreifend liefern“ müsse, mahnte FDP-Fraktionschef Henning Höne, Wüst müsse schnell umsetzen und sich gegen die Grünen behaupten. „Schluss mit den Trippelschritten!“ Mit dem neuen finanziellen Spielraum vom Bund, so Höne, müsse auch der Automatismus, die politische Verantwortung nur nach Berlin zu verlagern, „endlich enden“.

Das gelang nur eingeschränkt. Denn Wüst nahm in seiner Einschätzung, Scholz (SPD) habe zu wenig geliefert, gleich noch die Kommunalen Spitzenverbände seines Landes mit in die Haftung. In einer gemeinsamen Mitteilung monierten die Spitzen des Städtetags NRW, des Landkreistags NRW sowie des Städte- und Gemeindebunds NRW am Dienstagnachmittag mit Wüst, dass der zugesagte Beitrag des Bundes zur Finanzierung der Flüchtlingskosten vor Ort „weit hinter den Erwartungen“ zurückbleibe. Das Land NRW sagt in dieser Mitteilung zu, die vereinbarte Pauschale von 7500 Euro pro Flüchtling pro Jahr „auch zukünftig zur Finanzierung der bestehenden Leistungen komplett für die Kommunen zu verwenden – und auch weiterhin erhebliche eigene Mittel zusätzlich zu aktivieren.“ Die Beteiligung des Bundes sei derweil „weiterhin unzureichend“, heißt es.

Wüst, der jene 7500 Euro mitverhandelt hatte, nannte am Dienstagmorgen in Berlin einen eigentlichen Kostenbedarf von rund 20 000 Euro pro Flüchtling pro Jahr – mitsamt aller Integrationsmaßnahmen. „Das ist im Ergebnis nicht einmal die Hälfte“, so der Ministerpräsident zum Erreichten. Dabei war er für das nun erreichte „atmende System“ von mehr Geld bei mehr Flüchtlingen für die Kommunen schon vor einem Jahr gegen Scholz in die „Bütt“ gegangen – seinerzeit hatte sich der Kanzler lediglich auf Festbeträge für die Kommunen eingelassen. „Die Debatte hier in Berlin ist ein Jahr hinter der kommunalen Lage“, monierte Wüst.

Der bergische Bundestagsabgeordnete Jürgen Hardt (CDU) kritisierte derweil, die Einigung enthalte „viele altbekannte Punkte aus früheren Beschlüssen, die auch nach Monaten noch nicht umgesetzt sind. Schon das zeigt, dass dies gestern nicht die notwendige Asylwende war“. Die wirklich neuen Punkte würden sich vor allem auf Prüfaufträge beschränken, „auf die Einrichtung einer Kommission und auf Zielstellungen wie die Beschleunigung der Asylverfahren auf drei bzw. sechs Monate, die kurzfristig nicht zu realisieren sind“, so Hardt, der die „26 konkreten Maßnahmen“ der CDU-Bundestagsfraktion, die Merz für einen Deutschlandpakt in der Migrationsfrage mit Scholz anbringen wollte, „leider kaum beachtet“ sah.