Die ruhige Oase zwischen den Gleisen 12 und 13
Jedes Jahr hat die Bahnhofsmission Kontakt zu mehr als 20 000 Menschen.
Düsseldorf. Es ist kurz vor 7 Uhr morgens. Barbara Kempnich schließt die Glastür der Bahnhofsmission im Mittelgang des Hauptbahnhofs zwischen Gleis 12 und 13 auf. Während in den Morgenstunden rundherum im Bahnhof Hektik herrscht, sind die Räume der Mission „eine ruhige Oase“, wie es der 52-jährige Harald Hermann beschreibt. Er ist fast täglich hier — „ich gehöre schon zum Inventar“, sagt er.
Kempnich leitet die Bahnhofsmission seit fünf Jahren im Auftrag der Diakonie. Ihr gleichgestellt ist Robert Modliborski von „In Via“, einem katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit — dem zweiten Trägerverein der Mission.
Kempnichs Arbeitstag beginnt am Dienstag damit, Kaffee für die Besucher zu kochen. Eine Tasse kostet 30 Cent, „wenn einer kein Geld hat, muss er nicht zahlen“, sagt sie. Sie bereitet den Kaffee selbst zu, weiß, wer wie viel Sahne oder Zucker nimmt. „Selbstbedienung gibt es nicht.“ Zu leicht könnten Krankheiten übertragen werden.
Die Räume der Bahnhofsmission sind schlicht, aber modern eingerichtet. Im Eingang steht ein Tresen, daneben eine kleine Küchenzeile mit der Kaffeemaschine. An den Tischen davor sitzen einige Gäste, trinken Kaffee und unterhalten sich über Fußball.
Im Nebenraum sitzt Robert Modliborski und bereitet die „Kids on Tour“-Fahrten vor. Dabei begleiten Mitarbeiter von der Bahnhofsmission allein reisende Kinder zwischen Berlin und Düsseldorf oder Hamburg und Köln. Seit Dezember 2011 nimmt die Düsseldorfer Mission an dem Programm teil, das deutschlandweit seit zehn Jahren besteht.
Das gegenüberliegende Nebenzimmer ist als Gebetsraum eingerichtet. „Oft kommen Muslime vorbei, um in Richtung Mekka zu beten“, sagt Kempnich.
In diesem Jahr feierte die Bahnhofsmission in Düsseldorf ihr 110-jähriges Bestehen. 1902 erlaubte es die Eisenbahndirektion Missionsdamen erstmals, ein Pult im Wartesaal des Bahnhofs aufzustellen — heute hat die Bahnhofsmission in Düsseldorf jedes Jahr Kontakt zu mehr als 20 000 Menschen.
„Es ging ursprünglich darum, jungen Mädchen, die mit der Industrialisierung vermehrt in die Städte zogen, eine Anlaufstelle zu bieten“, erklärt Kempnich. „Für Zuhälter waren sie oft leichte Opfer. Die Missionen sorgten dafür, dass sie eine Unterkunft bekamen, Jobkontakte hergestellt wurden und die Mädchen christlich blieben. Die Bahnhöfe waren schon damals Dreh- und Angelpunkt der Städte.“
Noch heute stellt der religiöse Hintergrund einen Schwerpunkt der Arbeit dar. Kempnich reizt an ihrer Tätigkeit bei der Mission, dass diese die Kirche im Bahnhof sei. „Es gibt hier die verschiedensten Kulturen, Arm und Reich treffen aufeinander und die Bahnhofsmissionen bieten die Möglichkeit, die Werte an so einem sozialen Ort hochzuhalten.“
Zudem gebe es auch Momente der Ruhe inmitten der Hektik. „Wenn ich für einen Menschen die Zugtür aufhalte, damit dieser sich seine Zeit zum Einsteigen nehmen kann, kann der Zug erst mal nicht weiterfahren. Diesen Moment kann ich gut nutzen, um auch mal aufzuatmen und nachzudenken“, sagt die 53-Jährige.
Um halb acht muss Robert Modliborski am Bahnsteig sein. Vor ein paar Tagen bekam der 32-Jährige die Anfrage, ob die Bahnhofsmission am Dienstag einem älteren Paar beim Tragen der Koffer in den Zug behilflich sein könnte. Oben am Bahnsteig warten bereits Hermann Sweekhorst und Karin Schenkowski: „Meine Tochter hat organisiert, dass uns mit den Koffern in den Zug geholfen wird“, sagt die 77-Jährige.
Gemeinsam mit dem ein Jahr älteren Sweekhorst fährt sie am Dienstag für eine Woche nach Binz in den Urlaub. „Ich bin bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr mit dem Zug gefahren“, sagt sie. „Da freue ich mich über jede Hilfe.“
An den Bahngleisen gibt es für die Mitarbeiter der Bahnhofsmission die meiste Arbeit, sagt Modliborski. „In unseren blauen Westen sind wir sofort für jeden erkennbar. Da werden wir oft von Reisenden nach Auskünften gefragt oder haben auch einfach nur mal ein offenes Ohr.“ Außerdem bedienen sie die Rampen für die Rollstuhlfahrer.
Regelmäßig gehen die Mitarbeiter über das Gelände und um den Bahnhof herum, um zu sehen, ob sie helfen können. Gerade im Winter halten sich hier viele Obdachlose auf, um sich aufzuwärmen oder in Hauseingängen zu übernachten.
Am Nachmittag kommt Veronika Rüdt in die Mission. Sie ist eine von etwa 50 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und arbeitet seit Februar einmal in der Woche hier. „Ich studiere Kommunikationsdesign“, sagt sie. „Die Arbeit hier ist etwas, das ich im Alltag sonst nicht kennenlerne.“
Rüdt kennt die Stammgäste bereits, inzwischen sind alle Tische besetzt. Auch Harald Hermann hat wieder den Weg gefunden. „Ich bin seit 1997 obdachlos“, sagt der Mann mit dem dunklen Haar und dem kurzen, grauen Vollbart. „Immer wenn ich in Düsseldorf bin, führt mich mein erster Weg am Morgen hierher.
Aber auch im Laufe des Tages komme ich oft und gern vorbei, um mich aufzuwärmen.“ Dass er immer ein offenes Ohr für seine Sorgen und Probleme finde, schätze er besonders. Und dass er hier neue Leute kennenlerne.
Gegen Abend kommt eine Italienerin mit ihren drei und acht Jahre alten Kindern in die Bahnhofsmission. „Sie ist vor ein paar Tagen das erste Mal hier gewesen“, sagt Barbara Kempnich. Die junge Frau, die kein Wort Deutsch und nur wenig Englisch spricht, hat zuletzt mit ihrem pakistanischen Freund in Spanien gelebt und ist Anfang der Woche mit dem Bus nach Düsseldorf gekommen. „Sie wollten heiraten, allerdings hatte seine Familie etwas dagegen“, erzählt Kempnich.
„Da sind sie alle zusammen in den nächsten Bus gestiegen und vor der Familie geflohen.“ Der Freund, der sich wohl illegal in Europa aufgehalten hat, ist inzwischen abgeschoben worden. Die Frau und ihre beiden Kinder, von dessen Vater sie nichts erzählt, werden jetzt mit einem Bahnticket, das die Stadt bezahlt, nach Italien geschickt.
„Sie sagt zwar, sie kennt dort niemanden — aber uns sind die Hände gebunden. Zumindest konnten wir noch den Kontakt zu Mitarbeitern einer italienischen Kirche herstellen, die die Familie am Bahnhof abholt“, sagt Kempnich.
Geschichten wie diese erlebe man hier regelmäßig. „Es ist der sprichwörtliche Mantel der Ehrenamtlichen — wenn ich nach Hause gehe, hänge ich ihn an die Wand und lasse mit ihm auch das Erlebte hier. Anders würde man es wohl nicht schaffen.“