Stadt-Teilchen Wenn mal gar nichts los ist – Hauptbahnhof geht immer
Düsseldorf · Der Hauptbahnhof Düsseldorf: Hier ist man nicht, hier will man vor allem durch und weg.
Wenn bei mir gar nichts mehr los ist, fahre ich zum Bahnhof. Einfach so. Ich will dann nirgendwo hin, ich will dann einfach nur da sein und das Leben einatmen, das dort immer pulsiert. So viel Leben, dass man als Herumstehender, der einfach nur mal in Menschenmenge baden will, ganz schön aufpassen muss, dass man nicht umgerannt wird.
Gegen das, was man im Hauptdurchgang des Hauptbahnhofes erleben kann, wirkt das Wimmeln in und um einen Ameisenhaufen wie der Betrieb eines alpinen Kurhotels, wo Gestresste in Abgeschiedenheit zur Ruhe kommen sollen. Hier ist man nicht, hier will man vor allem durch oder weg. Nur hier und da sind ein paar Versprengte zu sehen, die stehen und ihrer Züge harren, die sichtbar Zeit haben, sich aber rasch in die anliegenden Geschäfte verkrümeln, weil man es halt schwer aushalten kann in dem Gewusel, wenn man keine Richtung hat.
Die meisten hier haben eine Richtung. Sie schauen in die Richtung, in die sie wollen. Sie schauen so, als würde der starre Blick sie schneller in genau diese Richtung bringen. Eigentlich schauen sie nicht, denn die meisten Blicke wirken irgendwie leer. So wie bei Tagträumenden, die gerne mal ein Nichts in der Ferne fixieren und sich damit herausheben aus ihrem unmittelbaren Umfeld.
Manchmal bin ich extra mutig, dann warte ich, bis irgendein Regionalexpress eintrifft und seine Passagiere in die Treppenabgänge schüttet. Man kann dann sehen, wie die Reisenden einem Lavastrom gleich die Stufen hinabfließen und zu ihrem Ziel eilen. Ich stelle mich ihnen dann in den Weg und schaue mir an, wie die Ströme um mich herumfließen. Ich schaue jenen, denen ich im Weg stehe, natürlich nicht ins Gesicht. Das wäre zu dreist. Ich tue vielmehr so, als suchte ich etwas in meinen Taschen, oder ich gebe vor, etwas in meinem Handy zu programmieren.
Besonders Letzteres ist die unauffälligste Art, sich als Wellenbrecher zu betätigen, weil fast alle, die nicht den festen Blick ins Nichts draufhaben, auf ihren Minibildschirm starren. Die wenigsten bleiben dabei stehen. Die meisten beherrschen eine verblüffende Art des Slaloms, sie spüren quasi per Luftdruck, wenn ein Hindernis vor ihnen liegt und weichen diesem intuitiv aus.
Das Schöne am Bahnhofsgewusel ist, dass hier zu allen Tageszeiten eine ungeheure Vielfalt herrscht. Man sieht feine Leute im edlen Zwirn, abgerissene Typen, Junggesellen auf Abschiedstour, Studenten, Schüler, den gelangweilten Graureiher auf dem Weg zum nächsten Meeting, Menschen mit Hunden, mit Fahrrädern, Seiende und Werdende. Nichts ist hier statisch, nichts ist wie es ist, alles wird oder soll werden. Sie kommen und sie gehen.
Will man etwas über diese Welt erfahren, dann setze man sich diesem Treiben einfach mal eine Stunde bewusst aus. Man wundert sich dann schnell, wie das alles so reibungslos passieren kann. Mögen oben die Züge auch noch so chaotisch Verspätung einfahren, hier unten regelt sich alles, ist die Zahl der Kollisionen verglichen mit der immensen Anzahl von Begegnungen vergleichsweise gering.
Natürlich muss man in dieser Transferzone, wo alle den nächsten Anschluss suchen, auch auf die Sprache achten. Nicht auf die Durchsagen von oben, sondern auf die Gesprächsfetzen, die man mit etwas Aufmerksamkeit auffangen kann. Man kann sich für Sekunden in Gespräche einklinken und versuchen, zu erraten, worum es geht. „Auf jeden Fall hat der dann gesagt, und ich habe ihm…“ Man frage nicht, was er ihm nun hat, man konstruiere sich das Ende des Gesprächs einfach selber.
Vielleicht wäre es ein schönes Spiel, einfach mal mit ein paar Leuten zum Hauptbahnhof zu fahren und Gesprächsfetzen einzusammeln, die man später in fröhlicher Runde zu einer Art Patchworkdecke aus lauter Wörtern zusammenfügt. Erlaubt sind dabei alle Sprachen, denn man hört am Bahnhof auch, dass diese Welt eine große ist und sich mitten in Düsseldorf findet.
So groß ist diese bunte HBF-Welt, dass ich jedes Mal in ganz besonderer Stimmung den Heimweg antrete. Mal bin ich ein bisschen gestresst von all dem Durcheinander, mal bin ich merkwürdig gelöst von dieser Vielfalt. Auf jeden Fall fühle ich mich immer etwas anders als vorher. Dann merke ich, dass diese Veränderung, dieser permanente Drang zum Wandel auch in mich gedrungen ist und dass ich ihn gerne weitergeben möchte.
Dann fahre ich heim und ordne die Blümchen auf der Fensterbank neu.