Besonderes Buch Von Trauer und Abschied nehmen

„Die Stunde des Nachtwinds“ lautet der Titel des Buches, in dem Brigitte Haertel über ihre Trauer schreibt. Ein sehr emotionales Werk.

Brigitte Haertel mit ihrem Buch „Die Stunde des Nachtwinds“.

Foto: Anne Orthen (orth)

Günter war die Liebe ihres Lebens. Er starb am 30. Mai 2021 – drei Wochen nach der Diagnose Leberkrebs. Brigitte Haertel funktionierte nur noch. Die Zeit danach sei wie im Nebel gewesen. „So heftig habe ich es mir nicht vorgestellt“, sagt sie rückblickend. Erst drei Wochen später begann sie zu weinen, und es hörte anfänglich gar nicht mehr auf. Sie sei mehrmals am Tag zum Friedhof gegangen. Blieb dort stundenlang, sprach mit ihrem Mann.

Trauer empfindet jeder anders. Für Haertel war es die Hölle. Die Trauer habe sie angefallen wie ein Raubtier und sie konnte sich nicht wehren. Das sagt sie, die starke Frau, die Journalistin, die Herausgeberin des katholischen Magazins Theo. Doch der Verlustschmerz übermannt sie. Sie sieht zu, wie sie trauert. Sie weiß nicht weiter. Sie geht in eine Trauergruppe und stellt fest: „Das ist nichts für mich. Ich konnte nicht im Kreis sitzen und mit den anderen reden und trauern.“

Es war eine schreckliche Zeit. Als sie feststellte, dass einige Erinnerungen verblassten, war ihr klar: „Ich muss was tun, ich muss das aufschreiben, um es nicht zu vergessen.“ So hat sie angefangen zu schreiben. „Die ersten 20 Seiten habe ich einem Literaturagenten gezeigt“, sagt sie und der meinte „Du musst weitermachen.“

Und so schrieb sie, die nie Tagebuch geführt hat, weiter. Herausgekommen ist ein mehr als 200-seitiges Buch. Ein „Protokoll einer Trauer“ wie es im Untertitel von „Die Stunde des Nachtwinds“ heißt. Ein Buch mit all den „liebevollen Erinnerungen – gegen das Vergessen“, wie sie sagt. Aber sie ist auch kritisch sich selbst gegenüber, schreibt nicht nur über die schönen Seiten, hinterfragt und philosophiert über Glauben und ein Leben nach dem Tod.

Mit gefühlvollen Worten schreibt sie: „Seit dem 30. Mai 2021, einem helllichten Sonntag, der ihn um 16.12 Uhr ins Dunkle des Todes holte, lebe ich in einem Gemütszustand, den man Trauer nennt. In einem Land also, dass niemand kennen kann, bevor er es betreten hat.“ Es sei ein wildes, ein stürmisches Dämmerland mit tiefen Tälern, reißenden Gewässern, manchmal eine Einöde mit schattenloser Weite, still und endlos ausgedörrt. Ein Land, in dem innere Bilder sich aufdrängen; ein Land, in dem sie verzweifelte.

Sie berichtet offen, emotionsgeladen, sachlich, kritisch, schonungslos sich selbst gegenüber und immer wieder voller Liebe – unendlicher Liebe. Die Kapitel des Buches sind nicht chronologisch, Brigitte Haertel springt in ihren Gedanken und Erinnerungen, aber der Leser kann sie sofort nachvollziehen.

Für beide war es die zweite Ehe. Sie war früh geschieden, er verlor seine Frau an Krebs. „Auch im Alter kann es so glückliche Beziehungen geben.“ Sie war 60, er 73, als sie sich kennenlernten. Sie erinnert sich an die Wohnungsbesichtigung, bei der sie sich zum ersten Mal begegneten, „und ich wusste, ich muss ihn wieder sehen. Was für ein netter Mann. In diese Augen wollte ich öfter sehen“, sagt sie heute lächelnd. Sie verbrachten wundervolle zehn Jahre.

Als sie in ihrem Haus im Allgäu waren, ging es Günter Schneider plötzlich schlechter, er hatte schon rapide abgenommen. Sie hatten einen Termin bei Neurologen. Es war der 3. Mai. Und ausgerechnet an diesem Morgen gab es einen Kurzschluss in der Diele. „Blöde Designerlampe“, dachte sie. „Wenig später sollte ich dieses Vorkommnis als böses Omen beschreiben“, erklärt sie. Am 6. Mai um 7 Uhr morgens kam ein Anruf, ihr Mann müsse sofort ins Krankenhaus. Sie fuhren ins Marienhospital. Warteten. Dann nahmen Angestellte ihren Günter mit. „Das ist das letzte Mal, dass ich ihn aufrechten Ganges gesehen habe“, sagt sie. Es war Corona. Sie durfte ihren Mann nicht besuchen. Jetzt kam die starke Frau wieder hervor. Sie setzte sich durch und holte ihren Mann wenige Tage später nach Hause. Seine Töchter aus den USA und London waren gekommen. Günter sei tapfer gewesen, aber er wurde immer schwächer. Dann traf er eine letzte, wichtige Entscheidung. „Ich will ins Hospiz.“ Er wollte nicht in der Wohnung in Düsseltal sterben, in der Brigitte Haertel weiterleben sollte.

„Das war eine gute Entscheidung“, sagt sie rückblickend. „Günter war in den besten Händen.“ Er blühte noch mal auf, wie der Docht in einer Kerze. Vier Tage hat sie bei ihm gesessen. Seine Hand auf die ihre gelegt, und dann atmete er plötzlich anders. „Da wusste ich, jetzt geht er. Der letzte Atemzug und dann plötzliche Stille. Friede.“

Danach reagierte Brigitte Haertel nur noch. Sie nahm Beruhigungspillen. Nebel umschloss sie. Sie hatte einen völlig leeren Blick, werden ihr andere später sagen. Später dann das Alleinsein, als Witwe nicht mehr eingeladen werden, sinnlose Bürokratie-Hürden, und immer wieder Erinnerungen. Ihre persönliche Geschichte von einer späten Liebe, vom Finden und Verlieren und von einer Zeit, die nicht mehr ist und dennoch bleibt, hat sie in ihrem Buch niedergeschrieben.