Tonhallenkonzert Kontrolle und emotionale Wirkung: Das ist das Phänomen Pletnev

Düsseldorf · Der russische Pianist Mikhail Pletnev spielte eine besondere Version von Taschaikowskys „Erstem“.

Mikhail Pletnev (hier auf einem Archivbild mit den Russian National Orchestra) spielte in der Tonhalle.

Foto: RNO

Er sitzt nicht auf dem Hocker, sondern im Stuhl. Zurückgelehnt, entspannt, abgeklärt. Arme über der Brust zusammengeschlagen. Fast ist es so, als ob er nachdenkt, über das Werk, das er gleich spielen wird, über Tempi und Farben. Vor ihm kein Steinway, sondern der eigens für ihn gebaute Shigeru Kawai Flügel. Mikhail Pletnev bevorzugt das Premium-Konzertklavier aus japanischer Fertigung. Sobald er beginnt – in der voll besetzten Tonhalle - wird klar, warum: Die Kawai-Brillanz muss sich zwar nicht hinter dem New Yorker Konkurrenten verstecken, aber der Sound ist dunkler, nicht ganz so hochgetunt, der Wirklichkeit näher.

Das passt zum russischen Ausnahme-Musiker und Multitalent, der mit einer eigenwilligen Mischung aus kühler Analyse und Subjektivität bis heute verblüfft. Vor fast 40 Jahren begann seine internationale Pianisten-Karriere, nachdem er als 21-Jähriger 1978 den Tschaikowsky-Wettbewerb gewann. Kurz nach Mauerfall und Politwende im Osten, gründete Pletnev als Dirigent das erste private, nicht-staatliche Orchester in Russland – das Russian National Orchestra, heute ein renommierter Exportschlager und sicherlich ein verlässlicher Steuerzahler in Putins Reich.

Ein rein russisches Wunschkonzert

Mit „seinem“ Orchester mit schlank geführten, hochgestimmten, durchsichtig schimmernden Streichern und Holzbläsern tourt derzeit der bald 63-Jährige Russe, der nach langer Zeit vom Maestro-Pult zurückkehrt ans Klavier. Und beweist, dass man neben Trifonov und Levit immer noch mit ihm rechnen muss.

Am Pult in der Tonhalle: Kirill Karabits, der – dynamisch, gleichzeitig mit einem Höchstmaß an Geschmeidigkeit ausgestattet – ein rein russisches Wunschkonzert-Programm im Köcher hatte. Damit versetzte er das Publikum zunächst ins Schwelgen, danach entfachte er Jubel.

Mit Tschaikowskys „Erstem“, mit dem wohl berühmtesten Auftakt eines Klavierkonzerts, wollte Pletnev nicht ein weiteres Mal den bei diesem Stück zu erwartenden Tastendonner im Turbotempo entfachen. Prahlerei war nie sein Ding. Genauso wenig wie sich körperlich dabei auszutoben. Deshalb wählte er wohl die kürzlich entdeckte Urfassung des b-Moll-Opus, die wesentlich lyrischer, leiser und langsamer daherkommt als die Version, die wir fast alle seit Jahrzehnten in den Ohren haben. Sie verlangt weniger Virtuosität und gibt dem Interpreten mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Veröffentlicht wurde sie 2015 – zu Tschaikowskys 175. Geburtstag – vom Tschaikowsky-Museum in Klin bei Moskau.

Kein bombastischer Anfang mit ratternden Klavierakkorden. Im Gegenteil: Mit sanft perlenden Tönen überrascht Pletnev. Im ersten ‚allegro non troppo’ seziert er wie ein Präzisions-Techniker die Partitur. Verschmiert die Akkorde nicht im Eifer des Gefechts, sondern macht jede einzelne Not hörbar. Distanziert, beinah unterkühlt und akademisch streng wirkt das, aber keine Sekunde künstlich aufgesetzt oder gar manieriert.

Hinzu kommt seine immer wieder gerühmte Anschlagkultur, die sich besonders bei leisen Trillern und sängerischen Melodien bewährt. Dieser Widerspruch aus Kontrolle und emotionaler Wirkung auf den Hörer macht das Phänomen Pletnev aus.

Kontrolliert, genau und mit der Übersicht eines dirigierenden Interpreten intoniert Pletnev selbst die grell und scharf aufflackernden Passagen. Ohne eine Schweißperle auf seiner hohen Stirn spielt er auch dann, wenn es mit Akkordketten im Forte losgeht. Tempo kann er. Genauso wie kraftvolles Zupacken. Aber Stil und Geschmack bewahren ihn davor, es mit der Lautstärke zu übertreiben.

Keine klebrige Süße – feines Gespür und guter Geschmack

Im zweiten Teil dann die „Scheherazade“ von Nikolai Rimsky-Korsakov. Erstaunlich, welche Farbenpracht das ‚Russian National’ da entfacht, und plastisch vor Ohren führt den Märchenzauber um die schöne Prinzessin und Sindbads Schiff, umspielt von tosenden Wogen, die an die Felsen prasseln. Emotional und aufwühlend führt Kirill Karabits das Orchester durch Stürme und Liebesgesäusel. Doch auch hier dominieren feines Gespür und guter Geschmack. Fern von klebriger Süße und Orient-Kitsch fährt das Publikum mit dem Orchester durch die Meere und wird Zeuge der Lovestory zwischen Prinz Kalender und Sherezade. Fein gezeichnete Charaktere, tänzerische Leichtfüßigkeit, große Ruhe – das beherrscht Karabits, der mit agilem Dirigierstil das Publikum schnell auf seine Seite zieht. Doch auch er und das Orchester verstehen sich auf packende, zündende Dramatik – so sehr, dass im Finale die Funken sprühen, bevor sich die Szenerie beruhigt. Jubel auch hier.

Nachzuhören: auf CDs auf Deutscher Grammophon, bei der Pletnev seit 2000 unter Exklusivvertrag steht.